Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

015

Chiesa Evangelica“steht draußen dran. Hört sich gut an, hier in strenger Diaspora. Dabei ist es nur ein einfacher Eingang in einer Häuserzeile der Altstadt von Orbetello. Wir klinken die Tür erwartungsvoll auf und sehen in sieben überraschte Augenpaare. Unsicher stellen wir uns vor und werden herzlich aufgefordert, am Gesprächskreis „Glaube und Wunder“ teilzunehmen. Das ist zwar durchaus mein Thema, aber ich fürchte, nicht genügend Italienisch zu können. Trotzdem setzen wir uns dazu, und meine Befürchtungen erweisen sich als gänzlich unbegründet. Der Diakon liest Stück für Stück einen italienischen Text vor, ein junges Mädchen und eine ältere Dame lauschen ebenso konzentriert wie ein rumänischer Moldawier aus dem Kirchenvorstand. Die schwangere Frau aus der Ukraine kuschelt sich an ihren Ehemann, der ihr alles sorgfältig ins Rumänische übersetzt. Ein anderer junger Rumäne neben uns übersetzt mit Freude ins Englische, und was Salka trotzdem nicht versteht, übersetze ich in Deutsch. Dafür unterhält sie sich mit dem Moldawier auf Russisch.

Die Bibelstunde wird kürzer als geplant, denn es bleibt nicht aus, dass wir uns gegenseitig von unseren Lebenswegen erzählen. Rumänisch sprechende Wanderarbeiter aus unterschiedlichen Ländern gehen gern gerade nach Italien, weil sie der Sprache dort am nächsten sind. Die Anwesenden leben sehr bescheiden und unterstützen ihre Familien in der Heimat. Aber sie finden auch noch Zeit, auf den Straßen der Stadt mit Gitarre und Gesang evangelisch zu missionieren. Ganz leise, um nicht die Nachbarn zu stören, singen sie uns ihre Lieder vor, was in dem kellerartigen Gewölbe widerhallt und überirdisch klingt. Der Jüngste spielt die Gitarre und meint am Schluss auf Englisch: Da sind wir nun Rumänen und singen italienische Lieder für euch Deutsche; Christen kennen ja keine Grenzen. Dann schließen wir den Kreis, fassen uns alle an den Händen und beten für unsere Familien zu Hause. So ähnlich muss es gewesen sein, denken wir uns, damals, als es noch ganz wenige Christen gab, die irgendwo im Keller zusammen rückten.



025

Vor unserer Tür stehen Flamingos!“ Ich sage es mit aufforderndem Charakter, aber Salka gibt mit geschlossenen Augen nur einen Knurrlaut von sich. „Die Flamingos ziehen gleich weiter.“ Jetzt scheint sie mich ernst zu nehmen. Salka öffnet das eine Auge halb, dann aber schnell beide, während sie sich im Bett aufrichtet. Da stehen sie, dreißig Meter vor unserem Bett, eine kleine Herde Flamingos, die im seichten Etang gründelt. Der schöne Anblick in der Morgensonne währt nicht lange, denn langsam, aber stetig zieht die Herde aus unserer Sichtweite. Ich setze Kaffeewasser auf.

Heute ist der 14. Juli, Nationalfeiertag. Das macht mir ein bisschen Sorge, denn Franzosen können recht nationalistisch sein - und deutschfeindlich, besonders hier im Süden. So bewegen wir uns noch zurückhaltender als sonst durch den kleinen sonnigen Ort, in dem alles in Festtagslaune ist. Aber es gibt den ganzen Tag nichts Nationales - keine Aufmärsche, keine Reden in pathetischem Französisch, keine Ordensverleihungen, noch nicht einmal Fähnchen. Am einsamen Rathaus hängt die Trikolore wie jeden Tag einmütig neben den katalanischen Streifen, aber ansonsten ist was los in der Stadt! Zum Baden im Meer kommen wir heute jedenfalls nicht, denn auf jedem verfügbaren Platz der Stadt gibt es Tanzvorführungen, Sevillanas und Flamenco in bunt wehenden Kleidern zu spanischen Gitarrenklängen. In den Gassen hört man die Musik, die steppenden Schuhe und die Kastagnetten aus allen Richtungen. Unmengen von Zuschauern genießen die Vorführungen, klatschten mit, ziehen von einem Platz zum nächsten. Den ganzen Tag geht das so.

Zum Sonnenuntergang sind die Plätze wieder geräumt, aber es ist zu spüren, dass noch etwas kommt. Von einem Balkon höre ich das Wort „defilée“ heraus. Aha, denke ich, jetzt kommt doch noch wenigsten ein Umzug. Aber auch der kommt ganz anders, als erwartet: Eine Art mittelalterlicher Spielmannszug nähert sich von Fackeln und viel Volk begleitet über die Strandpromenade. Die Männer spielen mit der einen Hand Flöte, mit der anderen Trommel. Von der anderen Seite kommt ebenfalls ein Musikzug, aber in bunter Tracht und mit andalusischer Musik, ebenfalls von vielen Menschen begleitet. Am Strand treffen sich beide Züge, singen und spielen abwechselnd spanische Lieder. Kein einziges französisches Lied ist dabei. An die Nation erinnern ausschließlich die bunten Laternen der Kinder in blässlichem Blau-weiß-rot. Schließlich wird der Tag mit einem Feuerwerk über dem Meer beendet.

Als wir am Etang wieder in unser Bett krabbeln, sind keine Flamingos zu sehen, wohl aber als kleine Blumen am Horizont die Feuerwerke von anderen Orten am Rande der großen, flachen Camargue.



045

Das „Vaterunser“ verhallt noch lange nicht. Sekundenlang kreisen unsere Klänge durch die hohe Kuppel, an den runden Marmorwänden mit den eingelassenen Säulen und den prächtigen Bildern entlang und verklingen schließlich im Gewimmel der immer mehr werden Menschen. Denn während unseres Singens ist aus dem ständigen Kommen und Gehen der vielen Touristen ein überwiegendes Kommen geworden. Man wartet, ob es wohl noch etwas zu hören gibt, aber die Messe hat ihr Ende gefunden, und das Vaterunser von Mauersberger war unser letztes Lied. In Gedanken schwebe ich noch mit den Tönen durch den Raum, voll von Dankbarkeit darüber, dass ich in meinem Lieblingsgebäude singen durfte. Zugegeben: Von außen ist das Pantheon recht hässlich, hat ziemlich genau die Form eines Atomkraftwerks. Man sieht es nur nicht so, weil die Häuser relativ nahe herangebaut sind und man nicht den genügenden Abstand hat. Die fenster- und schmucklose, trutzig dicke Ringmauer trägt seit fast zweitausend Jahren die unübertroffen größte Steinkuppel der Welt. Technisch wohl ein Meisterwerk, aber die Schönheit findet sich nur innen, beleuchtet allein von dem kräftigen Bündel Sonnenlicht, das zu jeder Tageszeit anders durch die kreisrunde Öffnung im Zenit der Kuppel fällt. Über den Fußboden mit dem Großmosaik aus Marmor unterschiedlichster Farben streben wir nun dem Ausgang zu, im Gegenstrom zu den Besuchern, die jetzt erst kommen und wie wir die Schönheit genießen, aber den Klang entbehren müssen.



060

Ein feiner Nebel erfüllt die Luft, so dass alles Grün, das ringsumher urwaldähnlich sprießt, seine Konturen etwas verwischt, aquarellartig das Moos sich von den großen Blättern der Sumpfpflanzen, die Bäume sich vom moosbedeckten Stein abheben. Der Wasserfall kommt irgendwie aus den Wipfeln der Bäume, fällt in ein Becken, das Wasser spritzt auf und verliert sich unter den breiten Blättern, glitzert aber überall hindurch, eilt unter meinen Füßen, unter den Pflanzen, unterhalb umgefallener Bäume einem See zu. Meine Füße stehen auf einem Steg aus Knüppeln, der hier im Nationalpark fast schon der normale Fußweg ist. Wir folgen dem Weg, der kleine Niko und ich, bis zu dem See, sehen andere Wasserfälle, große und kleine, in denselben See stürzen, und der See selbst ergießt sich seinerseits über einen Wasserfall hinunter in einen anderen See. Unser Weg führt über eine Treppe nach oben, Stromschnellen rechts, Bach links, zum Ursprung des oberen Wasserfalls. Richtig, auch er kommt aus einem See, der noch verwunschener aussieht als der andere und, wie schon gewohnt, von Wasserfällen gespeist wird. Wir gehen unter überstehenden Felsen. Überall tropft es. Der Steg ist nass. Über den Waldboden eilt das Wasser, alles ist in Bewegung, nur die Zweige der Bäume geben dem Auge Halt. Und natürlich das Moos auf den Steinen, in dem jeder Wasserstrahl sofort versinkt. Dutzende von Seen, die über Hunderte von Wasserfällen ineinander, durcheinander fließen, und das alles in tiefstem, urwaldähnlichem Grün. Nichts anderes im Ohr als das Rauschen des Wassers. Ein großer See, ein kleiner, nur eine kleine Wasserstufe, ein großer Sturzbach, ein Wasserfall. Die Plitvicer Seen sind immer in Bewegung. Der Abend kommt. Den ganzen Tag sind wir die Stege und Wege gelaufen, durch Höhlen gegangen, an bewegten Vorhängen vorbei. Der große See liegt im Abendlicht. Lautlos gleiten die elektrischen Boote, mit bunten Lichtern behängt, über die glatte Wasserfläche. Ein Tag im Paradies geht zu Ende.



070

Die fremde Frau fällt nicht nur auf, weil sie schön ist, sondern noch mehr durch die unglaubliche Ruhe, die sie ausstrahlt. Regelmäßig geht sie an unserem Zelt vorbei, begleitet von drei mittelgroßen Kindern, die nicht gerade anspruchslos aussehen, und einem Kleinkind, dessen Karre sie beharrlich über den Schotter zieht. Ihre langen Haare fallen über den Rucksack, und sie lächelt zu uns herüber. Klar, wir bieten ja ebenso nicht gerade den alltäglichen Anblick. Vor unserem Zelt, das geräumig und leicht zugleich sein muss, steht das monströse Lastenfahrrad mit aufgebauter Küche. Henning und Martin machen mit mir Musik auf irgendwelchen provisorischen Instrumenten. Wir sind ganz zufällig hergekommen. Es war ja schön am Luganer See, aber die Schweizer Familien und wir, das passte einfach nicht zusammen. Sie sind freundlich, aber distanziert, halten alles tiptop, überall stehen die gleichen großen Zelte, die ihr Wesen als bewegliches, vorübergehendes Heim verloren, da sie seit Jahren denselben Platz belegen. Unseres war wie ein Fremdkörper in der Reihe, unser Fahrrad passte nicht zu ihren Autos, wir nicht zu ihnen. Und wenn sie erst gemerkt hätten, dass unsere Kinder die Windpocken haben! Da haben wir alles auf den Long John gepackt, ihn auf den Dampfer geschoben, was um Daumenbreite gerade noch möglich war, und haben uns über den See bis in den letzten, den italienischen Zipfel fahren lassen. Die paar Kilometer verändern die Welt. So etwas rätselhaftes wie diese Frau wäre in der Schweiz nicht vorstellbar. Eigentlich hat sie gar keinen Grund, ruhig zu sein. Sie wohnt mit ihren Kindern in einem winzigen Zelt. Sie kocht jedes Essen in einer Pfanne über einem offenen Feuer. Sie geht jeden Tag stundenlang zu Fuß, um frische Milch einzukaufen, ruhig, lächelnd, den Mangel freundlich ertragend. Wir lernen sie kennen und dabei auch die Lösung des Rätsels: Sie wurde ausgesetzt. Am Wochenende kommt ihr Mann mit einem Kleinbus aus Konstanz und bringt alles, was nötig ist. Wir laden beide Familien in den Bus, fahren um den See und speisen uritalienisch in dem einzigen Restaurant des kleinen Ortes. Hier ist eine Speisekarte unbekannt, die Spaghetti werden wie in einer Großfamilie hergestellt und von uns allen auf der großen Veranda fröhlich verspeist.



080

Ohne Arzt kommen wir da nicht weiter. Henning ist mit der Stirn gegen einen Briefkasten gelaufen, einen gewöhnlichen roten Postbriefkasten an der Hauswand. Die Wunde ist nicht unbedeutend, und sie blutet heftig. Wo finde ich jetzt blitzschnell eine Ambulanz, einen Arzt, hier in Kamien Pomorski, das wir nur auf der Durchfahrt streiften? Ich denke den Gedanken noch gar nicht zu Ende, da kommt eine Frau auf uns zugelaufen. „Das muss genäht werden“, sagt sie, „ich führe Sie zum Krankenhaus. Folgen Sie meinem Wagen!“ Diese perfekt deutsch sprechende, aber ortskundige Dame schickt der Himmel! Wir folgen ihrem Wagen mit unserem Bus bis zum Krankenhaus. Sie begleitet uns und erklärt dem medizinischen Dienst den Fall. Henning wird ohne jede Formalität sofort behandelt, ich darf aber ins Behandlungszimmer nicht folgen. Eltern sind nicht zugelassen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als im Wartezimmer Hennings Schrei zu ertragen. Jadwiga versucht, mich abzulenken, erzählt, dass sie Deutschlehrerin in Gryfice sei. Ihr Mann sei dort Arzt. Die Behandlung dauert nicht lange, Henning wird wieder herausgeführt. Er sieht mitgenommen aus, denn die Wunde wurde zwar gut genäht, aber ohne jede Betäubung. In Polen muss auch ein kindlicher Patient eine Menge aushalten. Die folgenden Formalitäten sind denkbar einfach: Hennings Name wird in ein Buch eingetragen, das ist alles. Ich frage nach der Rechnung. Die Ärzte wechseln fragende Blicke. Aber nein, das wäre kostenfrei, übersetzt Jadwiga. Da wir auf der Durchfahrt seien, sollten wir nach acht Tagen ein beliebiges anderes Krankenhaus aufsuchen, um die Fäden ziehen zu lassen. Wir bedanken uns und machen Henning ein feines Krankenlager im Bus, damit er sich erholen kann. Die Fäden kann ich dann auch selbst ziehen.



090

Je ne parle pas Français“. Der einzige französische Satz, den ich wirklich flüssig sprechen kann. Das macht die Übung. Denselben Inhalt habe ich auch auf spanisch, italienisch, polnisch usw. auswendig gelernt. Die Leute wissen dann, sie haben einen sprachlosen Touristen vor sich und fangen an, zu gestikulieren, zu buchstabieren, Ziffern aufzuschreiben oder sonst eine nonverbale Kommunikation zu beginnen. Nur, gerade französisch hätte ich den Satz nicht zu lernen brauchen. Er bringt nur Unglück. Die Frau hat bis eben noch ein freundliches Gesicht gemacht. “Welcher Weg führt nach Guillaume?“ konnte ich noch französisch fragen. Ein freundlicher Wortschwall ist die Antwort. „Pardon, Madame, je ne parle pas Français.“ Sie starrt mich entrüstet an, als hätte ich sie geohrfeigt. Es folgt wieder ein Wortschwall. Ich zeige fragenden Blickes auf die drei Straßen. Ihre Arme bleiben unten. Ein weiterer Wortschwall, sie schüttelt den Kopf und geht ihrer Wege. Ich nehme die mittlere Straße...............Ein Laden. Ein paar Sachen einkaufen, das wäre nicht schlecht. Mit Niko betrete ich den Laden, Niko zeigt auf Joghurt, ich zeige auch auf Joghurt. Die Verkäuferin zeigt eine distanzierte Miene. Irgendetwas spricht sie. Ich sage meinen Satz auf und zeige beharrlich auf den Joghurt. Sie zuckt die Schultern und sieht mir beharrlich in die Augen. Irgendwann sind wir dann gegangen, sonst würden wir womöglich heute noch dort stehen...............Im nächsten Dorf gibt es einen kleinen Supermarkt. Super daran ist vor allem, dass ich nicht reden muss. Ich gehe einfach an den Regalen vorbei und packe in den Korb, was ich will. Den Korb schiebe ich dann auf den Tresen vor die dicke Kassiererin. Sie tippt alles in einen Taschenrechner und sagt dann etwas, wahrscheinlich die Summe. Ich zeige auf den Rechner, den ich zu sehen begehre. Sie zieht ihn entrüstet an sich, als hätte ich es gewagt, sie kontrollieren zu wollen. Zur Erklärung sage ich meinen Satz auf. Einen Moment nur starrt sie mich an, dann murmelt sie etwas, nimmt meinen Korb, stellt ihn beiseite und beginnt ein Gespräch mit der nächsten Kundin, wahrscheinlich auch noch über mich. Niko nimmt es gelassen, dass ich wieder ohne Essen einsteige...............Die haben einen Knall, die Franzosen, denke ich im Weiterfahren - übrigens auf der richtigen Straße. Ich kann doch nicht jede Sprache lernen, durch deren Gebiet ich reise. In anderen Ländern ist das doch auch kein Problem. Was machen die überhaupt, wenn einer nun gar nicht reden kann? Muss der verhungern? Das ist die Idee! Die Idee ist so gut, dass ich beim Fahren vor mich hin grinse. Ich kann den nächsten Ort gar nicht erwarten. Vor dem Laden halte ich. Ich bin der einzige Kunde. Ich zeige mit bedauernder Miene intensiv auf meine Ohren und auf meinen Mund. Taubstumm‘, soll das heißen. Der Alte kratzt sich unter der Baskenmütze, sagt aber nichts. Ich zeige auf Eier. Er packt ein. Ich zeige auf Milch, Joghurt, Kuchen, Pflaumen. Ein kleiner Berg entsteht auf dem Tresen. In meiner Freude kaufe ich mehr, als ich wollte. Noch zwei Eis obendrauf, welche Sorte, bitte sehr. Er rechnet auf einem Stück Papier und hält es mir unter die Nase. Ich bezahle, denn französisch rechnen kann ich. Niko ist begeistert, als ich zurückkomme, besonders von dem Eis.



 

105

Heute gehen wir unseren Giro ziemlich weit, denn Salka möchte mir eine große Weihnachtskrippe zeigen, eine „Presepe Artistico“, die sie auf der Rückfahrt von Taormina gesehen hat. Während wir die vielen mannshohen und kunstvoll beleuchteten Figuren bestaunen, dringt leise Chormusik an unser Ohr. Sie kommt aus der nebenstehenden Kirche, die ich bisher kaum wahrgenommen habe, weil sie – im Gegensatz zu den anderen Kirchen des Ortes – hinter sehr schmalem Fußweg völlig in die alte Häuserzeile eingebettet ist. Neugierig öffnen wir die Kirchentür. Das Innere ist beleuchtet, „Natus est Emanuel“ deutlich zu hören, aber niemand zu sehen, bis wir den probenden Kirchenchor über unseren Köpfen auf der Empore entdecken. Eine sehr junge, energische Dirigentin mit langen Engelslocken steht vor etwa dreißig Sängerinnen und Sängern ganz unterschiedlichen Alters. Ein junger Mann sitzt am Harmonium. Alle hören auf zu singen und sehen fragend zu uns herunter. Wir grüßen freundlich, ich nehme kurzentschlossen den einzigen Aufgang, eine enge, eiserne Wendeltreppe, entschuldige mich für die Störung, rede die Dirigentin mit „Maestra“ an und frage, ob für Weihnachten geprobt wird. Ja, heißt es, für die Weihnachtstage und für ein für Konzert zwischen Weihnachten und Neujahr. Meine Frage, ob wir vielleicht noch mitsingen dürften, wird zögerlich bejaht. Als wir dann aber probeweise das bekannte Lied auswendig und mit voller Kraft mitsingen, freuen sich alle über die Verstärkung. Ganz plötzlich und völlig unerwartet sind wir wieder einmal Gastmitglied eines katholischen Kirchenchores, bekommen einen Stapel Noten und einen Probenplan – dreimal die Woche – und sind sofort mittendrin. Ich nehme mir am Ende die Noten mit, weil die mozartsche „Spatzenmesse“ so aus dem Handgelenk nicht zu machen ist. Aber die Zeit zum Einstudieren habe ich ja, denn auch in diesem Chor bin ich wahrscheinlich der einzige Rentner.

Und der Kirchenchor singt ja nicht nur. Er ist gleichzeitig auch das Herz der ganzen Gemeinde, organisiert, handwerkt, putzt die Kirche, feiert offizielle und private Feste im Gemeindesaal oder anderswo, ist fast so etwas, wie eine große Familie. Wir werden als gläubige Christen akzeptiert, auch wenn wir nicht katholisch sind, und gehören nun – wenigstens eine Zeit lang – dazu.



120

Die Kirchentür steht jedem offen. Trotz der späten Stunde herrscht ein eifriges Kommen durch die provisorische Holztür der relativ schmucklosen Betonhalle. Innen ist es fast so dunkel wie draußen, nur vorn im Altarraum brennen einige hundert Kerzen. Sie strahlen ein mystisches, aber auch heimeliges Licht aus und lassen die Schlichtheit des gesamten Kirchenraumes erkennen. Es dauert eine Weile, bis man sieht, dass die Kerzen einfach in hohlen Ziegelsteinblöcken angeordnet sind, die unregelmäßig um den Altar gestapelt wurden. Bis auf leises Gewisper ist es still. Langsam gewöhnt sich das Auge an die Dunkelheit. Die Mitte des Raumes ist völlig leer, abgegrenzt mit grünen Hecken in länglichen Kübeln. Der übrige Raum ist gefüllt mit meist jungen Menschen, die auf dem Boden hocken, mit oder ohne Gebetsschemel. Offensichtlich warten sie. Nach und nach kommen die Klosterbrüder, in weiße Kutten gehüllt, setzen sich in Reihen auf die reservierte Bodenfläche. Ein Tenor singt ein kurzes, einfaches Lied vor, die Menge in der Kirche wiederholt es. Die schlichte Musik erfüllt den Raum, scheint die Mauern zu durchbrechen und von weither zu reflektieren. Immer wieder wird die Melodie wiederholt, immer wieder. Inzwischen wird sie von den Gästen mehrstimmig wiedergegeben. Wenn der Gesang nach längerer Zeit erstirbt, wird eine neue Melodie angestimmt, von einem Sopran, von einer Geige, unterbrochen von Gebeten auf französisch, englisch, holländisch, deutsch, spanisch. Die einfachen Texte und Melodien hat jeder schnell gelernt, und so singt der ganze Saal. Als die Brüder plötzlich wieder gehen, bleiben die Gäste doch und setzen den frommen Gesang fort, stundenlang, bis weit in die Heilige Nacht hinein. Ich kann nicht müde werden, dem zuzuhören.

Der Weihnachtsmorgen ist kalt, aber der Himmel ist blau über den Hügeln des Burgund. Raureif glitzert auf den Bäumen und auf den Dächern des Dörfchens Taizé. Wir nehmen Kurs nach Süden, auf die Côte d'Azur. Wir suchen die Wärme.



180

Oben auf dem Hradschin habe ich sie schon bemerkt. Das war heute Vormittag, im Gewühl vor den bunten Häusern in der Burgmauer. Inzwischen habe ich mir interessiert die Baumaßnahmen auf der Kleinseite angesehen, die mit Gerüsten überdeckten Gassen, auf denen die Restaurateure wie auf einer zweiten Straßenebene im ganzen Stadtteil arbeiten, während die Wege darunter weiter benutzt werden können. Und nun sitze ich auf einer Treppe in „Klein Venedig“ und kühle meine Füße in der Moldau. Da steht sie plötzlich neben mir, fragt mich, ob ich mich auskenne. Ein bisschen, sage ich, und fange an, meine Schuhe wieder anzuziehen. Sie kann sich nicht neben mich setzen, denn sie trägt ein enges, weißes Kostüm, knielang, und natürlich Seidenstrümpfe. Während sie erzählt, sie habe aus der Aufschrift „Jute statt Plastik“ geschlossen, dass ich kein hiesiger Bauarbeiter, sondern deutscher Tourist sei, nutze ich die Gelegenheit, sie anzusehen, ihre kurzen dunklen Haare, ihr puppenhaftes, ungeschminktes Gesicht und die lustigen Augen darin. Obwohl sie mindestens 35 ist und trotz ihrer feinen Kleidung, könnte ich sie mir auch gut in einer Latzhose vorstellen. Natürlich weiß ich, wo der Wenzelsplatz ist, aber ich rede ihr den aus. Er wäre nur zum Flanieren und zum Besuchen diverser Restaurants nützlich, das „Leben“ aber, das fände sie in den Gassen um den Königsweg und den inneren Plätzen.

Das „Leben“ will sie sehen, Ihre Kostümjacke stopft sie respektlos in eine Plastiktüte, die sie aus der Handtasche zaubert. Auf der Karlsbrücke bringt sie tatsächlich einen Puppenspieler dazu, ihr die wertvolle Marionette für kurze Zeit in die Hand zu geben. Unterm Brückenturm reiße ich sie an mich, weil sie drauf und dran ist, gegen die Straßenbahn zu laufen, die hier durchs Haus fährt. Sie lacht über meinen Kindergriff und kann sich keinen Moment vorstellen, das Leben unter einer Straßenbahn zu beenden. Arm in Arm stehen wir vor der Astronomischen Uhr und vor allem lange bei all den vielen Musikanten und Kleinkünstlern, die jede freie Ecke für ihre oft erstklassigen Darbietungen nutzen. Dabei raunt sie mir ins Ohr, dass sie es leider mir überlassen müsse, Münzen in den Hut zu werfen, da sie überhaupt kein Bargeld dabei hätte. Auf dem Altstädter Ring, vor der Teynkirche, finden wir eine Comedy-Band von Jugendlichen umlagert. Man bietet eine Mischung von Musik und Clownerie. Weil meine Lady sich auf das Pflaster weder knien noch setzen kann, setze ich mich, und sie nimmt auf meinen Beinen Platz. Sie kann sich ausschütten vor Lachen, besonders, als der Bassist seinen Kontrabass unter den Arm nimmt und beim Spielen durch die Zuschauer stolziert. Sie reichen den Hut durch die sitzende Menge nur heimlich weiter, denn zwei Polizisten sind da, um verbotene Geldeinnahmen zu verhindern.

Es dämmert schon, als wir schließlich noch auf den Pulverturm klettern und über die Türme der Goldenen Stadt bis zum Hradschin blicken. Von dort oben zeige ich ihr nun auch den Wenzelsplatz. „Bringst du mich bitte noch dorthin?“ fragt sie leise. Dort sei ihr Hotel, und dort warte ihre Familie. Na klar bringe ich sie hin.



185

Silvesterabend. Feudale Hotels säumen in einer langen Kette die Uferstraße. Die Palmen sind angestrahlt. Von oben aus der Gondel des Riesenrades sieht der Weihnachtsmarkt vor dem Filmfestspielhaus wie ein Zelt aus Lichterketten aus. Mit künstlichem Schnee bedeckte Tannen und Rentiergespanne wirken auf uns ebenso deplatziert wie der Glühweinstand am mediterranen Strand. Salka hat die Idee, trotzdem Glühwein zu kaufen und die Plastikbecher sorgfältig aufzubewahren. Wie sollten wir sonst um Mitternacht anstoßen können? Niko hat uns eine feine Flasche Sekt für diese Nacht mitgegeben, und die tragen wir in einem Stoffbeutel voller Vorfreude mit uns herum.

Es war nicht einfach, ein Lokal für die Silvesternacht zu finden. Die meistens haben geschlossen, weil die Eigentümer selbst feiern wollen. Aber das kleine, sehr einfache Restaurant an der Ecke der fantastisch dekorierten Hauptstraße ist genau nach unserem Geschmack. Es gibt internationales Publikum, auf jeden Fall sind die französischen Gäste wohl in der Minderheit. Sicherlich um Tischgespräche zu ermöglichen, platziert uns der Kellner geschickt an einen Tisch mit Engländern und Kanadiern, die draußen im Yachthafen festgemacht haben. Am Nebentisch sitzen zwei katalanische Paare, und eine Gruppe junger Leute, die eigens für diesen Abend aus Milano angereist sind, haben sich unüberhörbar den größten Tisch reserviert. Der Kellner selbst heißt Moudi (oder ähnlich), ist Marokkaner und nicht nur Kellner, sondern auch Animateur und Spaßvogel. Moudi tänzelt umher, verteilt Karnevalshüte, Knallbonbons und gute Laune, wirft mit Konfetti und serviert dabei auch noch für alle Gäste die fünf Gänge des Menüs. Langsam werden die Menschen immer lustiger, und spätestens nach dem Feuerwerk über dem Meer verschwindet das letzte Fremdeln, wenn - angeführt von Moudi - jeder mit jedem in das neue Jahr tanzt.

Nach dem Tanzen folgen wir noch einer Einladung auf die Yacht der Engländer. Über einen schmalen, schwankenden Steg helfen sie uns hinüber auf ihr Schiff, das sie uns stolz zeigen. Schließlich landen wir im Salon, und wir spüren, dass die Schiffsherren gern etwas serviert hätten, aber nicht wissen, was, weil sie auf spontane Gäste nach Mitternacht nicht vorbereitet sind. Aber zu ihrem Erstaunen ziehen wir nun die edle Flasche aus unserem verblichenen Stoffbeutel und stoßen im Yachthafen von Cannes auf das neue Jahr an, die Vagabunden zur See und die zu Lande. Selbstverständlich nehmen wir die angebotenen Champagnergläser und lassen die Glühweinbecher ganz tief im Beutel stecken.



190

Dicke Schneeflocken fallen im ersten Morgenlicht. Das ist gerade noch durch die halbblinden Scheiben zu erkennen. Ich sehe mich erstaunt um. Oben über die niedrige Zimmerdecke zieht sich ein düsteres, aber durchaus schönes Gemälde hin: ein Gewirr von Ästen und Zweigen mit Eulen dazwischen. Die Bettdecke ist hart und schwer. Ach so, auf meinen Füßen liegt ein großer Hund. Und neben mir auch. Ich kenne die Hunde nicht, das Gemälde nicht, es war ja dunkel, als ich um das Nachtquartier bat. Die Adresse war ein Tipp von einer Tramperin am südlichen Ausgang von Berlin. Es ist kalt. Aber nun bin ich wach. Ich überlasse das Bett den Hunden und klettere die Treppe hinunter. Alles ist still. Gestern waren hier noch so viele Leute. Durch die Fenster sehe ich die Schneeflocken um das tiefgezogene, windschiefe Dach wirbeln. Der Schornstein vom Badeofen geht einfach durch eine zerbrochene Scheibe ins Freie, abgedichtet mit Zeitungspapier. Ich entscheide mich für den Ofen in der Küche. Papier ist da. Holz ist da. Bald ist es warm. Sobald ich Wasser heiß machen kann, wasche ich ab. Unmengen von Geschirr stehen rum.

Sie kommen nach und nach, müde, wortkarg, aus irgendwelchen Räumen. Sie freuen sich über die Wärme, über das saubere Geschirr. Sie sind jung, meistens aus sehr gutem Hause, Salemschüler und so. Für sie bin ich „schon älter“. Sie lassen sich nichts fragen. Man erfährt nur, was sie zufällig erzählen. Einer ist ein Urenkel eines Hamburger Bürgermeisters. Einer, der einzige, muss los zum Arbeiten. Andere stellen kunstvolle Ledergürtel her. Um elf Uhr beschließen sie, Rotkohl zu kochen. Sehr langsam schneiden sie den Kohl. Sehr langsam schälen sie Kartoffeln. Um halb eins schmieren sie Stullen. Wieso eigentlich, es gibt doch bald Mittagessen? Nicht fragen. Stullen nur mit Margarine. Genügsame Leute. Für die Mahlzeit wird das Kochen unterbrochen.

Ich gehe spazieren. Schwer hängen die Wolken über dem Bodensee. Das Schweizer Ufer ist nicht zu sehen, erst recht nicht irgendwelche Berge. Vorsichtig gehe ich die Stege entlang zu den berühmten Pfahlhäusern, die im Wasser stehen. Ich liebe das Wasser auch im Winter.

Der Badeofen wird geheizt. Zwei steigen in die Wanne. Ich mache Musik. Die Kartoffeln sind gar. Sie werden gestampft. Alle sitzen in der Küche, der Joint geht rum. Auch die beiden in der Wanne werden in keiner Runde vergessen. Um zehn Uhr abends ist das Essen fertig: ein Gemisch aus Stampfkartoffeln und Rotkohl.

Am nächsten Morgen stehe ich wieder an der Straße, den Rucksack auf dem Buckel, die Gitarre unterm Arm, den tiefverschneiten Schwarzwald vor mir und eine Adresse in Freiburg in der Tasche.



250

Aber nein, das ist der Ätna.“ Es ist schon fast dunkel, und ich habe die Frau, die dort aus dem Fenster lehnt, begrüßt und mit meinen paar Brocken Italienisch gefragt, was denn dort oben am Berg so rot glühe, ob da ein Waldbrand ausgebrochen sei. Ich bin sicher, dass ich ihre Antwort richtig verstanden habe. Der Ätna. Es ist also glühende Lava dort oben, der Ätna ist aktiv. Ich bin beeindruckt. Ein roter Streifen zieht sich schräg herunter, nicht ganz oben, eher an der Flanke des Berges.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, fahren wir bergan. Je höher die Straße sich hinaufzieht, desto mehr werden Gärten und Weinberge von grauen Gesteinsfeldern unterbrochen. Den Ätna habe ich immer für einen einzelnen Berg gehalten, aber nun sehen wir eher ein Gebirge, vielleicht so groß wie der Harz, oder noch größer - und vor allem viel höher.

In 1800m Höhe finden wir einen Parkplatz. Die Straße ist nagelneu, offenbar wurde die alte kürzlich verschüttet. Es ist angenehm kühl, eine Wohltat nach der täglichen Hitze im Tal. Krater umgeben uns, Krater über Krater, große Krater, kleine Krater, neue Krater, abgetragene, und Krater, die andere Krater überlagern, so weit das Auge reicht. Voraus verschwimmen die letzten Hügel im Mittagsdunst, durch den deutlich das Meer herüberglitzert. Hinter uns steigen die Krater zu einer enormen Höhe an, werden am Horizont von einem gewaltigen Hauptkrater überragt, aus dem in ganzer Breite eine Dampfwolke aufsteigt, die eine Millionenstadt einhüllen könnte. Um uns herum ist der Boden krümelig grau. Teile sind mit grünem Gras bedeckt, sicher noch nicht lange. Und Ginsterbüsche gibt es, die jetzt, im Juli, in voller Blüte stehen. Grau mit grünen Klecksen und gelben Tupfern. Dazwischen eine Straße. Mehr gibt es nicht, in keiner Richtung. Wir lieben das Klima, staunen über die Gegend, nehmen den Schlafplatz dankend an.

Wir besuchen unseren Nachbarkrater. Er sieht noch richtig gut aus, nicht so verwittert. Über den Schotterkegel haben schon andere einen Schneckengang hochgestampft. Wir ersteigen den Kraterrand und klettern innen wieder hinunter in die große Schüssel, denn wir haben unten ein Loch entdeckt, tiefschwarz. Vielleicht würde der Bus gerade hineinpassen, senkrecht jedenfalls. Bine und Penni halten ehrfürchtigen Abstand, Niko halten wir fest. Ich werfe einen Stein, einen der dickeren Brocken, hinunter. Es ist kein Aufschlag zu hören.

In 3000m Höhe ist es richtig kalt. Wir haben Pullover übergezogen. Wir kamen über eine Mondlandschaft, Krater an Krater, jetzt ohne jedes Grün. Der Rand des Hauptkraters liegt nur noch 300m höher, aber da dürfen wir nicht mehr hin. Zur Zeit ist der Ätna einfach zu aktiv. Unablässig wälzen sich die dicken Dampfwolken aus dem Schlot, steigen in den Himmel, lösen sich auf, ein gewaltiger Anblick. Ich lasse die Kinder bei Kristin ein bisschen über die Lavabrocken klettern und wandere von der Schotterstraße ab. Aber die Felder, aus denen der Dampf aus dem Boden steigt, wage ich nicht zu überschreiten und kehre um. In diesem Jahr wären wir nicht die ersten und auch nicht die letzten Besucher, die der Ätna behielte.

 

 

 

 

 

270

Ich habe es wirklich nur gut gemeint, aber irgendwas ist da schiefgelaufen. Die Frau kommt in das kleine Piroggen-Lokal und fragt mich, ob ich meinen Teller noch leer essen will. Ich verstehe nun wirklich überhaupt kein Russisch, aber begreife sehr wohl, dass sie die angeknabberten Reste auf unseren Tellern haben möchte. Wir sind aber noch gar nicht fertig, Im Gegenteil, Karin ist an der Theke und bestellt noch nach. Also rufe ich ihr zu, sie möge noch ein Stuck mehr bestellen. Als sie damit ankommt, freut sich die fremde Frau aber keineswegs, nein, erklärt sie Karin, sie wolle nichts geschenkt, sie wolle ja nur die Reste. Aber bei uns gibt es keine Reste, und Karin redet ihr zu, sie möge das Stück doch nehmen. Sie tut’s - und bekommt prompt Ärger mit der Kellnerin, sie solle hier in diesem Lokal nicht betteln und so weiter. Karin hat viel zu tun, die Wogen wieder zu glätten. Solch ein Aufstand nur wegen einer geschenkten Pirogge, und das hier, mitten auf dem Newski-Prospekt, der Prachtstraße mit ihren üppigen Läden, die nun wirklich keinen Eindruck von Armut vermittelt.

Wunderschön ist St. Petersburg. Trotz Schneematsch und nasser Füße werde ich nicht müde, die Grachten entlang zu spazieren. Es sind nicht nur die weltberühmten Zarengebäude, die beeindrucken, sondern die gesamte Anlage der Stadt ist keine Ansammlung von Häusern, sondern ein Kunstwerk, Stück für Stück planvoll zusammengefügt. Von der anderen Seite der Newa, bei Abendlicht betrachtet, ragt die Palastzeile unmittelbar aus dem Wasser empor und erinnert mich sehr an Venedig, wenn nur der Schnee nicht wäre. Karin spricht so gut russisch, dass wir uns erlauben können, uns mit der Metro auch außerhalb der City zu bewegen, die Lokale, Märkte und Geschäfte zu besuchen, das Leben der Stadt zu atmen.

Die Straßenbahn fährt uns zu einem riesigen Kloster. Es ist nicht die erste kirchliche Prachtanlage, die wir besichtigen, aber eine ist immer noch beeindruckender als die andere. Schließlich brauche ich eine Toilette. Nach einigem Suchen finden wir eine, ein kleines Häuschen auf dem Gelände, aber wir finden sie - bewohnt. Die Toilette ist intakt, die Frauen und Männer verlassen sie solange, damit wir sie benutzen können, und ziehen danach wieder ein. Teilweise haben sie trotz Schnee und Kälte noch nicht einmal Schuhe, garantiert kein anderes Dach über dem Kopf. Sie haben sich eingerichtet, Decken, Gerät und Vorräte um sich gelagert und wohnen auf dem Klo. Wir verabschieden uns schnell wieder und sehen uns noch einmal um. Über das Klo schweift unser Blick auf die goldbezogenen Kuppeln des Klosters. Welche Pracht. Welche Armut. Und keine Handbreit dazwischen.
 

350

Was ich von Ligny en Barrois noch erinnere? Nichts, außer dem Klo. Es war doch ein Muster an einfacher Eleganz und sparsamer Funktionalität, nicht wahr? Von der Jugendherberge gehst du über den Hof, und da ist es dann. Einfach ist vor allem die Architektur. Es handelt sich, von innen gesehen, um einen aufrecht stehenden Hohlquader aus Beton. Eingerahmt von rechten Winkeln ziert die Wände nichts, kein Gerät, keine Armatur, nur der glatte Putz. In der Mitte des Bodens ist die einzige Unterbrechung, ein rundes Loch von etwa 15 cm Durchmesser. Nein, nicht wie bei einem Stehklo, da gibt es eine Schüssel, Trittflächen, womöglich Wasserspülung und anderen Aufwand mehr. Hier ist das schwarze Loch das Einzige, das dem Auge Halt gibt. Deinen eigenen Halt nun wiederum garantiert die grüne Tür in der vorderen, ansonsten offenen Wand des Quaders. Sie ist eine Multifunktionstür dadurch, dass sie nur etwa halb so hoch ist wie die Öffnung. Das reicht, denn im Hocken bist Du auch nicht größer als die Tür. Während Du versuchst, genau ins Loch zu zielen, ohne die Hose den Boden berühren zu lassen, hältst Du Dich an der Oberkante der Tür fest. Dadurch ist die Tür automatisch geschlossen, was einen Riegel erübrigt. Der nächste Gast erkennt an den Fingern über der Türkante sofort ein “besetzt“ und kann diskreten Abstand wahren, bis er an der Reihe ist. Und obendrein kommt, wenigstens am Tage, das fürs Zielen unentbehrliche Licht durch den oberen Teil der Türöffnung. Morgen sorgen wir vor. Die Feldränder in der Champagne sind zwar nicht funktional, aber komfortabler.

 

353

Zu Hause sind wir nicht arm!“ Sie sagt es sehr entschieden und auch ein wenig entrüstet. Vielleicht habe ich nur etwas zu verständnisvoll über die Kosten des Lebens geredet, weil sie so sparen müssen. Eigentlich sind sie wirklich alles andere als arm, denke ich nach kurzer Überlegung. Die beiden Familien sind jede mit eigenem Auto aus der Nähe von Magdeburg auf diesen Campingplatz in den Urlaub gefahren, zum Valence-See, dem kleinen Bruder des Balaton. Sie haben alles mitgebracht, was man braucht. Ihr Zelt nennen sie „Klappfix“, und wirklich, man kann sehr fix aus dem kleinen Pkw-Anhänger ein recht großes Mobilheim aufbauen. Sie haben Unmengen von Lebensmitteln mitgebracht, denn eines haben sie wirklich nicht: Geld. Sie kamen mit Gutscheinen, die sie in der DDR kaufen mussten. Mit den Gutscheinen bezahlen sie den Campingplatz und andere Leistungen. „Die Gutscheine verrechnen die Ungarn dann z.B. mit Trabbis, die die DDR hierher liefert“, erklärt ihr Mann das System. Ungarische Forint bekamen sie nur in sehr kleiner Menge zugeteilt, denn einfach DDR-Mark in Forint tauschen, das gibt es nicht, weder offiziell noch auf dem Schwarzmarkt. Und sie sind wütend über die Holländer, die jeden Tag in den Restaurants essen gehen und sich kaputt lachen, wie wenig Gulden sie dafür bezahlen müssen. Auf mich sind sie nicht wütend, denn mein sichtbarer Lebensstandard ist ja eher noch kleiner als ihrer. Und außerdem ist ihre Tochter Peggy gerade in Nikos Alter, und die beiden schwimmen zusammen, fahren das - von mir gemietete - Boot zusammen und gehen nachmittags gemeinsam in das große Kinozelt mitten auf dem Platz. Dort gibt es jeden Tag „Dirty Dancing“, und Niko muss den Film inzwischen wohl auswendig kennen, als wir uns nach einer Woche in Richtung Budapest verabschieden.

 

 

370

Wieder zu Hause nach langer Reise. Auch das ist ein schönes Gefühl, obwohl der Urlaub zu Ende ist. Der Schlüssel dreht sich im Schloss, gleich werden wir die leere Wohnung betreten, sorgenvoll die Blumen begutachten – aber was ist das? Hier wohnt doch jemand, stellen wir zu unserer Verblüffung fest, obwohl jetzt gerade niemand da ist. Eine Konservendose mit polnischer Aufschrift? Krzysztof! Er ist während unserer Ferien gekommen, und Anne hat ihn reingelassen, damit er hier wohnen kann. Krzysztof haben wir vor etlichen Jahren kennen gelernt, als wir ihn und seine Freundin als Tramper mitnahmen, irgendwo in den Alpen. Manchmal, wenn er eine Ausreisegenehmigung bekommt, fährt er in den Semesterferien aus Sopot nach Hamburg, um ein bisschen Geld zu verdienen. Studentenjob. Wir freuen uns immer, wenn er kommt.

 Krzysztof kommt von der Arbeit und wird fröhlich begrüßt. Wie geht es dir? Wie geht es Alina? Die ist dir nicht treu geblieben? Wie schade, da versteh einer die Frauen. Du hast Arbeit im Kühlhaus Moorfleet? Was machst Du da? Krzysztof erzählt. Den ganzen Tag entfernt er dort Etiketten von Tiefkühlpaketen und klebt anschließend andere Etiketten wieder drauf. Als Übersetzung? Nein, alle Etiketten sind deutsch. Komische Arbeit. Krzysztof spricht Englisch, aber kein Deutsch, und erst recht kann er Deutsch nicht lesen, eine Voraussetzung für den Job.

 Dann gehen wir drei zu Anne runter. Natürlich hat sie Kuchen, wahlweise aber auch Abendbrot für alle. Wir erzählen, wir lachen. Schließlich, zu vorgerückter Stunde, holt Krzysztof die Etiketten aus der Tasche, die er heimlich mitgenommen hat, weil er endlich einmal wissen will, was draufsteht. Bei den zu entfernenden Etiketten lesen wir „Kängurufleisch, Herkunft Australien“. Bei den neu aufzuklebenden lesen wir „Wildschweinkeule“. Wie bitte?

 

380

Bonifaccio, Aiaccio, Porto vecchio, man hat nicht den Eindruck, In Frankreich zu sein - und ist es ja auch nur sehr bedingt. Morgens durch Buschwälder wandern, sich mittags in einem Felsenbecken abkühlen, das von einem Bergbach gespeist und von hohen Kiefern bewacht wird, nachmittags im Meer schwimmen und abends im Restaurant sitzen: auf Korsika ist das möglich. Keine Landschaft Europas vereinigt Berge, Wälder und Meer auf so engem Raum und in so einmaliger Schönheit. Ein wilder Campingplatz unter Bäumen an der Westküste bei Porto, herrlich zum Leben, wenn man das Trinkwasser nicht dem Fluss entnimmt und nur im Meer badet. Wer nur ein Bisschen den Strand verlässt und um die Felsen herumschwimmt, findet winzige Strandbuchten oder Felsenplatten, auf denen es sich abgeschieden sonnen lässt.

Ich weiß nicht mehr, wo ich sie aufsammelte, die beiden jungen, vollschlanken Tramperinnen mit ihren großen Rucksäcken und den ausgezeichneten Kenntnissen in der französischen Sprache. Sie schlafen unter freiem Himmel und bauen nur selten ihr Zelt auf. Sie waschen ihr Geschirr im Meer. Sie sehen mit uns die Sonne über Calvi untergehen. Sie spielen mit Niko. Sie lauschen meiner Musik und singen mit mir in die Nacht. Sie lotsen den Bus über enge Pässe und durch ein Flussbett, als es zum unwegsamen Cap Corse geht, und sie genießen den Tag und das Land mit uns, obwohl sie eigentlich für Niko zu alt und für mich zu jung sind. Nach etlichen Tagen gehen sie genauso plötzlich wie sie kamen, und zwar an einem kleinen Sandstrand unterhalb eines steilen Ufers, das wir hinabgeklettert sind, um zu baden. Sie werfen ihre Anker bei zwei jungen Franzosen, die dort sitzen, während auf Niko und mich die Fähre nach Nizza wartet.

 

 

400

Bin ich der einzige, der die Gemälde betrachtet? Die anderen Menschen scheinen nur vorbeizueilen. Geschichtliche Episoden sind dargestellt, überlebensgroß, an beiden Seiten der Halle. Auch die Decke ist verziert und bemalt, wird von langen Reihen marmorverkleideter Säulen getragen. Prächtige Kronleuchter hängen herab, die zusammen mit den stilgleichen Wandleuchtern an den Säulen für Helligkeit sorgen. Bänke laden zum Verweilen ein. Sie werden auch genutzt, aber nur zum Verschnaufen. Die umgebende Pracht scheint niemand zu beachten, sie ist wohl schon lange zur Gewohnheit geworden. Ohnehin haben es die meisten Menschen sehr eilig, steigen ein oder aus und hasten die Halle entlang. Zusammenstöße mit einem stehenden Betrachter sind da unvermeidlich. Der Mann entschuldigt sich wort- und gestenreich bei mir. Sein Begleiter macht ihm Vorhaltungen, das ist deutlich zu erkennen, auch wenn ich sein Russisch nicht verstehe. Er klopft mir überfreundlich auf die Schulter, und da sind die beiden auch schon wieder im Gewühl verschwunden. Etwas verwirrt zupfe ich meinen Mantel zurecht. Die Brusttasche ist offen? Die Brieftasche ist weg!

Ein paar Sekunden brauche ich schon, um zu begreifen, mit welcher Dreistigkeit ich da soeben bestohlen wurde. Aber mein Zorn macht schnell einer gerechten Schadenfreude Platz: In der Brieftasche war nichts von Wert. Zwanzig Grußadressen in die Heimat, die ihren Weg auf die Postkarten schon lange gefunden haben, Bilder von meinen Kindern, von Hamburg, nichts weiter. Doch, die Fahrkarte! Die Metro-Fahrkarte war darin! Wie komme ich hier jetzt wieder raus? Hier sind grundsätzlich alle Ausgänge kontrolliert. Wer die Station verlässt, gibt die Fahrkarte wieder ab. Personal spielt keine Rolle. Ein Entkommen ist undenkbar. Was passiert mit einem Schwarzfahrer in Moskau? Geht es so ab wie im sozialistischen Budapest, wo wir Ahnungslosen von zwei Kontrolleusen ‘gestellt’ wurden, die einen Riesenaufstand machten und uns dann schließlich mit lächerlichen drei Mark zur Kasse baten? Oder wird man hier in Russland gleich abgeführt? Unsicher betrete ich die hölzerne Rolltreppe. Sie fährt sehr schnell, ist aber so lang, dass die Menschen auf ihr in Ruhe Zeitung lesen. Am Ende jeder Treppe sitzt eine Uniformierte im Glaskasten, um im Notfall die Maschinen anzuhalten. Die guckt auch schon so böse, obwohl sie noch gar nicht wissen kann, dass ich keine Fahrkarte habe. Lange unterirdische Gänge, der obligatorische Bettler in der Ecke. Ich greife gewohnheitsgemäß in die Manteltasche, in der ich die kleineren Scheine für solche Fälle aufbewahre - die Fahrkarte! Nein, sie war doch nicht in der Brieftasche, sondern unachtsam zum Bettlergeld geworfen. Eine Riesenerleichterung durchflutet mich. Ich nehme die lauten Dankeshymnen und frommen Segenswünsche des Bedauernswerten kaum noch wahr, gebe die Fahrkarte ab und sehe dem Kontrolleur triumphierend in die Augen. Der zuckt tatsächlich etwas zusammen, aber er lässt mich gehen.

 

 

420

Weißt du, ich habe heute Geburtstag. Machst du für uns Musik?“ Vor mir steht eine schöne Frau im Badeanzug. Ich kenne sie nicht. Sie lächelt fragend. In ihrem Gesicht haben Arbeit, Sorgen und Lebenserfahrung Spuren hinterlassen, aber ihre Figur ist die einer Zwanzigjährigen. Gern mache ich für sie Musik. Unten am See haben sie ein Lagerfeuer gemacht, einige Erwachsene und etliche Kinder. Sie werden mir allesamt vorgestellt. Mühsam merke ich mir, wer zu wem gehört. Die Kinder sind mit Mutter, Onkel oder Tante dabei, kein einziges mit beiden Eltern. Die Familie ist hier nicht nur die Kleinfamilie. Wir feiern die halbe Nacht Bozenas Geburtstag. Und das drei Abende lang.

Bozena ist traurig, weil sie in wenigen Tagen nach Deutschland muss. Sie feiert auch ihren Abschied. Drei Monate wird sie in der Fremde arbeiten, weit weg von der Grenze im Rheinland. In den Schulferien ist es für sie am wenigsten schwierig, ihre Kinder allein zu lassen. Ferienlager, Tanten und Onkel überbrücken die Zeit. Bozena fährt nicht gern weg, aber zu Hause ist sie als arbeitslose Witwe chancenlos. Ihre Söhne sind sehr begabt. Sie brauchen das Gymnasium und später ein Studium, sind noch lange auf das Geld angewiesen, das ihre Mutter aus der Fremde mitbringt. Dort arbeitet die diplomierte Akademikerin als Putzhilfe, und das von früh bis spät an mehr als einem Dutzend Arbeitsstellen, die sie sich mit zwei Freundinnen teilt. Alle paar Monate lösen sie sich ab, auch als Bewohnerin des möblierten Zimmers.

In Bozenas Wohnung am Rande der schlesischen Kleinstadt fehlt es an nichts. Die Wohnung ist ihr Eigentum, zu günstiger Zeit mit D-Mark bar bezahlt. Bozena wohnt miet- und schuldenfrei. Sie leistet sich sogar ein Auto, made in Germany. Ihre Kinder sind wohlerzogen und erfolgreich. Bozena hat es geschafft. Ich bewundere sie.

 

455

Ein Arzt wird nie gerufen.Den frommen Brüdern aus Bethel vertrauen die Behörden blind. Den Totenschein stellt der Hausarzt bei seinem nächsten Routinebesuch aus. Durchschnittlich sterben zwei Menschen pro Monat. Dabei haben es die alten Männer wirklich schön hier inmitten des lieblichen Wiehengebirges. Sie wohnen kreuz und quer in den unterschiedlichen Gebäuden des ehemaligen Bauernhofes, der teilweise mit Hilfe von geistig behinderten Hilfskräften auch noch betrieben wird. Kühe, Schweine, Hühner werden gehalten, dazu Kartoffeln und viel sehr gutes Gemüse angebaut. Da die Hausmutter mit Hilfe einiger behinderten Mädchen wirklich gut kochen kann und die meisten Zutaten direkt auf dem Hof gewonnen werden, ist das Essen hervorragend. Für die Unterhaltung der Bewohner wird allerdings so gut wie nichts getan, so dass das Leben trotz guter Pflege trostlos wird, wenn jemand erst auf der Siechenstation angekommen ist und sich nicht mehr frei bewegen kann – oder darf, wenn ich ihm heimlich stark sedirende Medikamente unter die Butter streichen muss. Der Chef des Hauses selbst legt nie mit Hand an und ist, wenn überhaupt, nur im Büro anzutreffen. Bruder F., mein direkter Taktgeber, ist dagegen ein Pfleger mit Herz und Hand und hat das „Große Irrenpfleger-Diplom“, während ich gerade dabei bin, mich nur für das „kleine“ ausbilden zu lassen. Natürlich arbeite ich ausschließlich auf der Siechenstation, denn woanders fällt ja kaum Arbeit an, wasche die Alten morgens im Bett, führe sie an ihren Sitzplatz, serviere viermal am Tag Essen und führe sie am Abend wieder ins Bett. Nur wenn jemand stirbt, geht es rund. Der Todeskampf dauert manchmal einige Tage, währenddessen der Sterbende durchgehend gepflegt werden muss. Wenn Bruder F. dann den Tod festgestellt hat, müssen wir den auf Vorrat stehenden Sarg holen und mit Holzwolle , Laken, Kissen auslegen, den Toten gründlich waschen, mit einem Hemd bekleiden, den Sarg den Toten hinein heben, ihn zudecken, den Deckel draufschrauben. Aus einem Schuppen hole ich den Handwagen mit schwarzem Samt und silbernen Troddeln, auf den der Sarg anschließend gestellt wird. Der Bruder schlägt nun vorn und hinten je einen kräftigen Nagel in den Sargdeckel und hängt so zwei Buchsbaum-Kränze dran. Dann ziehe ich allein den Sarg über die Landstraße und durch den völlig nichtssagenden kleinen Ort Preußisch Oldendorf bis zur Friedhofkapelle. Inzwischen ist auch der Bruder mit seinem Fahrrad da, hat Blumen dabei, die er um den Kopf des Toten drapiert. Mit geschickten zwei Fingern streicht er ihm die Mundwinkel zu einem Lächeln. Ich falte ihm derweil die Hände auf der Brust. Zur Beerdigung kommen dann üblicherweise nur der Bruder, ich, Organist und Pastor. Wir drei singen tapfer die Kirchenlieder, während vor der Tür schon unsere Hilfskräfte warten, um mit mir den Sarg ans Grab zu tragen. Damit ist meine Arbeit zu Ende, und ich denke jedes Mal wieder an den glücklichen Herrn Schäfer, den ich auch zu Grabe tragen musste. Er sah uns damals an und sagte leise: „Und dann danke ich Ihnen noch für alles, was Sie mir Gutes getan haben.“ Bruder F. antwor

465

Tagelang hat es geregnet. In der feinen City pumpt die Feuerwehr das Wasser aus den Geschäften. Aber jetzt schiebt der Westwind die Wolken zusammen, und über dem Meer wird der blaue Teil des Himmels immer breiter. Die nassen Dächer, die Plätze am alten Hafen und die Takelage der Segelboote funkeln im Gegenlicht der Abendsonne. Wir haben unseren Bus vor „Notre Dame de la Garde“ gestellt und genießen nach all dem schlech ten Wetter den prächtigen Ausblick: Hinter uns die angestrahlte Kirche, die sich von den dunklen Wolken abhebt, und vor uns den Überblick über das frisch gewaschene Marseille. Der letzte Touristenbus verlässt den Parkplatz vor Notre Dame, mitten in der Stadt umgibt uns himmlische Ruhe, während die Sonne ins Meer taucht. Oben blitzen nacheinander die Sterne auf, unten die Lichter der Stadt.

Wir liegen schon im Bett, als gegen Mitternacht die ersten Besucher kommen. Autos fahren den Berg rauf und spucken Jugendliche und Jung-Erwachsene aus, die sich auf dem Parkplatz niederlassen. Sie gehören nicht alle zusammen, sie bleiben in Gruppen, aber es werden immer mehr. Einfach gestricktes Jungvolk ist es, aufgeschnatzte Mädchen und laute Männer, die sich gegenseitig zu imponieren trachten. Jede Gruppe lässt ihr eigenes Autoradio laut brüllen, die Autoscheinwerfer sind in Betrieb, um den Platz zu erhellen. Immer mehr Bierdosen und Weinflaschen landen leer auf dem Platz. Wir sitzen in unserem Bus und können an Schlaf nicht denken. So viele Menschen sind auf dem Platz, dass es eng wird, manche gegen unseren Bus rennen und einer vorsichtshalber unsere Spiegel heranklappt. An Wegfahren kann man nicht denken, und weiter aufmerksam machen wollen wir auch nicht auf uns, denn Deutschfeindlichkeit lauert doch hier und da in Marseille. Aber es bleibt alles friedlich, die Party geht stundenlang weiter. Erst um 3 Uhr fahren die letzten den Berg hinunter, hinterlassen uns Berge von Müll und endlich Ruhe.

Aber schon um 6 Uhr ist die Ruhe vorbei. Die Stadtreinigung kommt und entfernt mit großem Getöse den ganzen Müll. Als später der erste Touristenbus den Berg erklettert, ist alles wieder so, als hätte es diese nächtliche Party nie gegeben.

 

 

508

Als wir kommen, ist schon alles wieder gut: Ich habe ihrer Mama nur eben gezeigt, wie man hier mitten in der Altstadt San Marco ein bisschen Bargeld besorgt, aber die kurze Zeit reichte den Töchtern, in den Kanal zu fallen und sich heldenhaft retten zu lassen. Nun stehen sie klatschnass auf der Brücke, umgeben von einer Traube von Menschen. Auf die Frage, ob das meine Kinder sind, schüttle ich energisch den Kopf: So unerzogene Kinder können nicht meine sein! Der kleine Niko war wie immer bei mir, als wir in die Sparkasse gingen, aber die zwölfjährigen Mädchen wollten nicht mitkommen. Ich habe ihnen den Tipp gegeben, so lange auf den geflügelten Löwen zu klettern, aber sie sind es wohl nicht gewöhnt, guten Rat anzunehmen. Die rutschige Treppe zum Rio San Luca jedenfalls erwies sich dann als recht ungeeignet zum Spielen. Vom Retter ist nichts mehr zu sehen, so dass die Mama sich noch nicht einmal bedanken kann. Also ignoriert sie das Gerede der Leute, das sie ohnehin nicht versteht, und treibt die Kinder zügig unter die Dusche. Ihr Hotel ist zum Glück um die Ecke.

Was geschehen ist, lese ich am nächsten Tag in der Zeitung. Die Mädchen seien beide in den Kanal gefallen, und ein junger Bankangestellter ihnen sofort mit Anzug, Schlips und Kragen nachgesprungen, um sie herauszuholen. Als ihm das gelungen sei, habe er eilend nach Hause zurückkehren müssen, um sich umzuziehen. Weitere Einzelheiten konnte ich dem Artikel wegen meiner eigenen Sprachunzulänglichkeiten nicht entnehmen. Schade, ich hätte den unerschrockenen Lebensretter gern kennen gelernt.

 

525

Nacktsein ist Pflicht!“So ein Blödsinn, denke ich mir, während ich ganz langsam die Alle zu dem Feriendorf entlang fahre. An jedem Baum ist so ein Plakat, in den verschiedensten Sprachen, aber nur das deutsche kann ich lesen. ,Kann man denn nicht wenigstens für ein Plakat einen guten Übersetzer bekommen?’ frage ich mich im Stillen, denn die Aussage ist ja absurd. Vor der Schranke parke ich und rufe Paul an. Er freut sich und holt mich ab. Aber in was für einem Aufzug! Er hat ein T-Shirt an – weiter nichts. Ich gebe mir alle Mühe, so normal zu tun, wie möglich. Paul hat meinen Bus als sein eigenes Auto angemeldet, und so kann ich umsonst die Schranke passieren und auf dem Gelände wohnen. Die Urlauberhütten sind weitläufig in einem schattigen Pinienwald untergebracht, kaum jemand hat direkte Nachbarn. Die Sonne glitzert abendlich durch die Pinienstämme, die Luft riecht würzig nach Nadelholz, Kräutern und salzigem Meer. Nachdem wir den Bus neben Pauls Hütte geparkt haben, herrscht paradiesische Ruhe. Auch Pauls Familie, seine Frau und seine beiden fast erwachsenen Töchter begrüßen mich paradiesisch, nämlich fröhlich und – splitternackt. Ich verstehe: Erst einmal ausziehen. Danach gibt es Abendbrot auf der Terrasse. Später in der Dämmerung, wenn ich meine Gitarre erklingen lasse, wird es kühler, und ich ziehe mir wie Paul ein Hemd über den Bauch. Nun gehöre ich zur Familie.

Dass noch viele andere Menschen in dem Nudistencamp ihren Urlaub verbringen, merke ich nur beim Gang ins Dorfzentrum. Im Supermarkt herrscht ein Gewimmel von nackten Kunden, während nur die Verkäuferinnen normal bekleidet sind. Auch im Restaurant trägt man blanke Haut. Kurz vor meiner Abreise sitze ich vor meinem Bus und sinniere, wie schnell doch das Geheimnisvolle im Überangebot zerrinnt. Gestern, beim Baden im Atlantik, habe ich weit mehr nackte Frauen gesehen als sonst in meinem ganzen Leben. Sehr viele von ihnen waren jung und auf der Höhe ihrer Schönheit. Trotzdem kann ich mich schon heute an keine einzige Gestalt mehr erinnern.

 

550

Am interessantesten sind die Zebrastreifen. Jedenfalls scheinen die Kinder der Meinung zu sein. An der Kreuzung gibt es sie an allen vier Übergängen, und die Kinder springen im Viereck immer rundherum. Die Farben eines Zebras haben diese Streifen nie gehabt, mehr als zweitausend Jahre sind sie alt und immer noch bestens erhalten. Meistens drei steinerne Quader sind es, nebeneinander auf die Fahrbahn gelegt und teilweise in sie eingelassen, damit Fußgänger von Stein zu Stein auf den gegenüberliegenden Bürgersteig gelangen können, ohne die Niederungen der Straße betreten zu müssen. Die muss wohl in den römischen Städten ziemlich schmutzig gewesen sein, deshalb der große Aufwand, der ja immerhin eine reichseinheitliche Norm für die Spurweite sämtlicher Wagen und Karren erforderte, deren Räder ja sonst die schmalen Lücken zwischen den Zebrasteinen nicht hätten passieren können. Vor und hinter diesen Lücken haben die unzähligen Eisenreifen denn auch handbreittiefe Spurrinnen in das steinerne Pflaster geschliffen, da sie hier alle an derselben Stelle passieren mussten.

Mehr als antike Kunstwerke und große Bauten sind es solche Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die in Pompeji so faszinieren: die öffentlichen Brunnen zum Beispiel, oder das berühmte Schild „cave canem“, Fenster- und Türstürze aus einer Art Beton, Dachrinnen und Fallrohre aus gebranntem Ton, Zu- und Abwasserkanäle, Läden mit Vorratsbehältern, Werkstätten mit Werkzeug. Es gibt die Atriumhäuser der Reichen und die winzigen, flurlosen Häuser, die dicht an dicht die Straßen der Armen säumen. Niemand vergisst die lebensgroßen Gipsabdrücke der sterbenden Menschen. Sie wurden gewonnen, indem man die Hohlräume, die die verwesten Körper in der verdichteten Asche hinterließen, sorgfältig mit Gips ausgoss.

Noch nicht alles ist ausgegraben in Pompeji. Einige Straßenzüge liegen noch unter der Asche. Eigentlich nicht schlecht, denke ich, denn ich schaue vom Stadttor über Ruinen. Die Wände stehen, aber die Dächer fehlen generell. Doch die Dächer sind es, die das Haus bewahren. So kann in wenigen Jahrzehnten verfallen, was zweitausend Jahre erhalten blieb. Es müsste wunderbar sein, die Dächer wieder aufzubauen. In meiner Fantasie lasse ich wieder Leben einkehren in die Häuser, auf den Plätzen, in den Straßen, touristisches Leben in einem Denkmal aus der römischen Zeit, während mein Blick über die rechtwinklig angelegten Straßen und Häuserreihen schweift bis hinten zum Vesuv, der seine zwei Gipfel so harmlos in den blauen Himmel erhebt. Was zwischen ihnen fehlt wurde seinerzeit in einer gewaltigen Explosion zersprengt, die auch Pompeji begrub.

 

560

Erdö mellet est valettem, suban fejem alätettem..... Unser letztes Lied durchströmt den kleinen Kirchenraum und verklingt nur sehr zögerlich, wird von den Wänden festgehalten, die die Harmonien gar nicht wieder hergeben wollen. Den Zuhörern stehen Tränen in den Augen. Völlig überrascht sind sie von dem Abendlied in ihrer Muttersprache, das überhaupt nicht zu dem geistlichen Konzert passt, welches wir damit abschließen. Die Sprache eines kleinen Landes, die sonst niemand spricht außer den Magyaren selbst, ist unsere Verbeugung vor dem Gastgeber und wird auch so aufgenommen. Das ist gut, denn unser erstes Konzert war nicht so perfekt, wie es sein sollte. Wir kamen viel zu spät an, waren müde von der langen Busfahrt, mussten uns im Tournee-Bus mit aller Eile den Pinguin überwerfen und ohne weitere Vorbereitung lossingen. Und so zeigte Hartmuts Gesicht an mehr Stellen als sonst Ohrenschmerzen an. Die neue tschechisch-slowakische Grenze hat uns aufgehalten. Ihre Ausstattung ist noch ein reines Provisorium, Zoll- und Polizeistationen in Containern, aber die Überprüfung ist penibel und der Stau entsprechend lang. Die Scheidung der beiden Völker wurde zwar friedlich, aber doch sehr gründlich vorgenommen. Die anschließend unvermeidliche Geschwindigkeitsübertretung wurde zwar mit einem Zwanzigmarkschein geregelt, aber auch das kostete Zeit. Nein, wir sind nicht in bester Verfassung, aber glücklich über den freundlichen Dank.

Vor den weiteren Auftritten unten in Pest, in der gewaltigen Stephans-Kathedrale ebenso wie in der kleinen evangelischen Diasporagemeinde, sind wir hotelgeruht und eingesungen, das ist schon etwas anderes. Nur das Umziehen im Tournee-Bus bleibt ein Provisorium, denn nur so können wir die Zeiten zwischen den Konzerten optimal für Ausgänge nutzen. Ich sehe Budapest zum drittenmal, ich muss die Stadt nicht mehr erkunden, sondern kann sie genießen. Ich erinnere mich an die Brücken und Baudenkmäler, an die römischen Ausgrabungen unter der Schnellstraße, an die heißen Quellen, die so viele herrliche Bäder speisen - sogar den Zoo. Vielleicht ist die Altstadt von Pest so schön, weil sie gerade nicht so alt ist, hundertjährig vielleicht nur, und aus einem Guss gestaltet. Vielleicht finde ich sie nur schön, weil ich die Atmosphäre hier so genieße, die auf der Hauptstraße genauso wie abseits des Fremdenverkehrs auf den bunten, großen Märkten der Stadt.

Wir singen auch in Buda, oben in der Matthias-Kirche. Unserer Messe folgt direkt ein wirklich attraktives Konzert, mit dem das Joint-Venture einer großen deutschen Bank mit ungarischen Unternehmen gefeiert werden soll. Soviel kirchlicher Beistand für den weltlichen Mammon ist dann aber doch nichts für mich, und ich schlendere lieber die paar Schritte zur Fischer-Bastei und sehe auf die Donau hinunter, auf die berühmte Kettenbrücke, von der Niko behauptet, dass ich mich in sie verliebt hätte. Täuschen mich meine Ohren? Ich gehe dem Klang nach, und tatsächlich, im obersten Türmchen sitzt er wieder, der Junge mit der Gitarre, spielt für die Besucher und für ein paar Forint. Natürlich kann es nicht derselbe Junge wie vor zwölf Jahren sein. Dennoch fühle ich fast ein Déja-vu: Die gleichen Klänge und der gleiche Abend, der die Strahler vor dem Parlament entzündet und die Lichter der Kettenbrücke, dass sie sich in der Donau spiegeln.

 

630

Es ist ja fast dieselbe Richtung, also nehme ich sie gern mit. Sie sagt, sie sei kein Grufti, auch wenn sie schwarze Haare, schwarze Kleidung und schwarze Fingernägel hat. Verrückt ist sie auf jeden Fall, aber lustig verrückt. Ich hole sie in Bremen ab. Sie will nach Eygalières, einem Künstlerdorf in der Provence - mir völlig unbekannt. Und vorher will sie in den Felsen klettern. Na ja, Künstlern und Klettern ist ja nicht so meine Sache. Ich will ans warme Mittelmeer, an die Côte d’Azur. Ich habe mir vorgenommen, eine bestimmte Bucht zu suchen, die ich bisher nur auf einem Foto gesehen habe. Unter steilen Felsen waren Segelboote aufgereiht, und ganz oben auf der Felsenkante, unter den Wipfeln großer Kiefern, war einsam ein VW-Bus zu sehen. Dort möchte ich meinen Bus nun auch gern hinstellen! Die Bucht heißt „Port Miou“. Sie zuckt die Schultern. Den Namen kennt sie nicht. Aber egal, mindestens bis Avignon können wir zusammen fahren und ich habe die endlos lange Strecke auf der Autobahn Gesellschaft - und was für welche! Meine neue Reisetochter kann den Bus fahren, Gitarre spielen und zahllose Lieder aus den 20iger Jahren singen.

Sie lebt von Cola, Kaffee und Zigaretten und stellt ansonsten keine Ansprüche. Drei Tage lang teilt sie mit mir die Spritkosten, das Dosenfutter und das enge Busbett. Sie erzählt von ihren Theaterkursen in der Provence und von ihren Klettertouren in den Alpilles. Ich erzähle von meinen Problemen mit Franzosen, weil ich deren Sprache nicht spreche und sie das grundsätzlich als Beleidigung auffassen, und dass ich als völlig Fremder trotzdem ständig nach dem Weg gefragt werde. Sie lächelt ungläubig, doch schon im allerersten französischen Ort, durch den wir gehen, werde ich nach dem Weg gefragt, und ihr verweigert man in einem Café fast 10 Minuten lang einen Aschenbecher, nur weil ihr das Wort „cendrier“ nicht einfällt - obwohl sie das Gewünschte in fließendem Französisch beschreibt.

Ob sie zum Klettern wieder in die Alpilles wolle, frage ich, nachdem wir Avignon hinter uns gelassen haben. Nein, diesmal wolle sie in den Calanques klettern. Gut, denke ich, dann haben wir ja noch mehr Weg gemeinsam. Meine Traumbucht vermute ich in der Nähe von Marseille. „Kennst du Cassis? Das ist sehr hübsch. Wollen wir uns da trennen?“ fragt sie. Ich bin einverstanden, gebe aber zu bedenken, dass es in Cassis nun wirklich keinen Parkplatz für den Bus gebe. Sie ist anderer Meinung und verspricht, mir einen zu zeigen. Mit bewundernswertem Orientierungssinn leitet sie mich durch die engen, gebirgigen Einbahnstraßen der malerischen Touristenstadt zu einem Felsvorsprung etwas außerhalb unter Pinien hoch über dem Meer. Mein Blick fällt auf ein halb verwittertes Schild, das nach unten zeigt: „Port Miou“. Wie im Traum stelle ich den Bus zwischen die langen Schatten der Pinienstämme, atme tief die würzige Luft ein, blinzle durch die lang benadelten Zweige hinunter auf die Segelboote in dem malerischen Fjord und kann es kaum fassen: Wir beiden so verschieden motivierte Menschen hatten von Anfang an auf den Meter genau dasselbe Ziel.

 

640

Das ist unser Schlafplatz! Ja, den wollen wir nehmen, hier wollen wir wohnen. Der See liegt vor uns, die Straße ist weit weg, kein Haus, keine Menschenseele zu sehen. Kinder, schließt alle Fenster! Auch die Dachluke! Schnell greife ich die Tüte mit trockener Birkenrinde, schon auf Vorrat gesammelt, öffne kurz die Tür, springe hinaus und werfe sie sogleich wieder zu. So hatten, wenn überhaupt, nur ein paar Mücken die Chance, hineinzukommen. Über dem Heck steht die Mückensäule meterhoch, angezogen von der Wärme des Motors. Schnell wird sie immer dichter und schwärzer. Ich bewege mich hastig, bin überall gut bekleidet. Trockenes Holz ist schnell gesammelt, vor dem Eingang entfache ich ein Feuer, mit Birkenrinde selbst bei Regen kein Problem. Es brennt. Schnell noch mehr aufwerfen, Holz liegt genug herum. Geduldig warten die Kinder im Bus. Niko und Isa halten die Tennisschläger wie Gitarren und singen laut daher, dass ich es draußen höre. Sie kennen das Warten. Sie kennen die Mücken. Das Feuer brennt, wird kräftiger. Ich werfe dickeres Holz auf, lasse es auflodern. Dann kommen die frischen Birkenzweige. Es qualmt kräftig. Die Mücken verflüchtigen sich. Der ganze Bus wird eingequalmt. Erst dann öffne ich die Tür. Wir bauen den Tisch auf und essen Abendbrot. Das Feuer muss in Gang gehalten werden, auch wenn der Motor kalt geworden ist, auch wenn ich auf das Dach klettere, um das Kinderzelt aufzubauen. Das Zelt ist mückenfrei. Aufs Klo, bzw. in die Wildnis, gehen wir nur zu zweit. Einer lässt die Hosen runter, der andere schlägt die Mücken tot. Bevor wir schlafen, dichten wir alle Ritzen ab.

Kräftige Sonne weckt uns am Morgen. Das Feuer ist aus. Wir lassen es so. Wir baden, wir waschen die Wäsche, wir fahren mit dem Schlauchboot auf den See, wir kochen Essen, wir sammeln Holz. Wenn der Abend kommt, der in Lapplands Sommer so lang ist, dass er sanft in den Morgen übergeht, werden wir Musik machen oder Domino spielen. Aber vorher werden wir das Feuer wieder kräftig entfachen.

 

660
Long Johns Sattel ist von Eis überzogen. Der Augustmorgen ist bitterkalt. Ich muss eine Kerze unter die Gaskartusche halten, um den Gasdruck für meinen Frühstückskaffee zu sichern. Der Himmel ist blau. Wenn die Sonne über die Berggipfel geklettert ist, wird sie dem Wintermorgen einen Sommertag folgen lassen. Der Malojapass ist seltsam genug. Steil geht es bergan vom Lago die Como, eine Straße wie ein Treppenhaus, Kehre an Kehre, über die sich die Lastwagen hocharbeiten. Und oben auf dem Pass geht es dann einfach nicht wieder hinunter. Ein ebenes Tal, eingerahmt von Bergen, breitet sich aus, Segelboote und Surfer huschen über die Seen, ein ungewohnter Anblick für eine Passhöhe. Trickreich haben wir uns auf den Pass fahren lassen, um ihn auf dem anderen Ende ganz gemächlich wieder hinunterzurollen, l000m Gefälle auf 100km Strecke, immer am Inn entlang, neben dessen Quelle wir jetzt stehen. Die Kälte hat uns noch zwei Tage im Griff, bis das Engadin sich soweit abgesenkt hat, dass der Sommer wieder normal wird. Long John ist vorn und hinten üppig beladen. Fünf Zentner wiegt er mit dem Zelt, den Luftmatratzen, der Kücheneinrichtung, den beiden Kindern vorn, den Klamotten hinten und mir obendrauf. Im Prinzip geht die Straße ja immer bergab, und oft zischt uns der Fahrtwind ganz gut um die Nase, aber kleinere Bergauf-Strecken sind nicht zu vermeiden. Dann gibt es drei Variationen: a) ich schiebe, b) ich lasse die Kinder aussteigen und schiebe, c) die Kinder schieben mit. Die nächste Talfahrt kommt sicher! An die vielen Leute, die uns fotografieren oder filmen, haben wir uns inzwischen ebenso gewöhnt wie an das herrliche Bergpanorama, das sich nach jeder Biegung neu entfaltet. Wir bleiben dem Inn treu bis nach Tirol, aber in Landeck verabschieden wir uns von ihm, vertrauen den Long John der Bahn an kaufen auch uns eine Fahrkarte.

 

670

Ich suche den Wisent. In diesen Wäldern soll es sie geben, die legendären, fast ausgestorbenen europäischen Bisons, und dafür war mir kein Weg zu weit. Die Fahrt mit dem Pferdekarren war lustig, aber Wisente gab es nicht. Kein Wunder das an den breiten Wegen mit den Touristenfuhrwerken, denke ich, und stapfe allein durch den Wald. Der Weg ist vielleicht nur ein Wildwechsel, wer weiß. Bei Sonnenschein habe ich nie Angst, mich zu verlaufen. Eher fürchte ich die russische Grenze. Den Russen traue ich nicht, jedenfalls keinen Grenzsoldaten. Ganz plötzlich in diese Gedanken springt mir ein Reh vor die Füße, von rechts aus dem Unterholz und links wieder hinein. Ich hätte es auf den Hintern klatschen können, wenn ich nicht vor Schreck ganz still dastünde. Es bleibt mir auch keine Zeit, den Schreck zu verdauen, denn gleich danach kommt das aus dem Gebüsch, was der Grund für Rehleins Eile ist: ein Wolf! Es muss ein Wolf sein. Ich habe Zeit, ihn zu betrachten, denn er folgt dem Reh nicht, sondern ist genauso erschrocken wie ich. Er steht mir auf dem Pfad gegenüber, drei Meter entfernt, würde ich sagen. Er sieht aus wie ein Schäferhund, ist aber grau, oben dunkler, unten heller. Er ist dünn, sein Fell borstig. Die vorgestreckte Schnauze ist schmal, seine ziemlich kleinen Ohren flach nach hinten gelegt, und seine Augen sind die einer Katze. Ich will natürlich nicht, dass er gerade dabei ist, im Geiste die Speisekarte zu ändern. Was er denkt, ist nicht auszumachen. Er wedelt nicht mit dem Schwanz, hält ihn aber auch nicht hoch, sondern waagerecht weggestreckt. Auch Wölfe haben Angst vor Menschen, beteure ich mir innerlich. Wir bewegen uns beide nicht, stehen wie Statuen da. Gern hätte ich mir einen Knüppel aufgehoben, es liegen ja viele herum. Aber ich will mich nicht bücken. Langsam rückwärts gehen ist auch nicht gut. Der Weg ist eigentlich kein Weg, ich könnte stolpern. Ich habe nichts anderes in der Hand als das Band, an dem der Fotoapparat hängt. Ich lasse ihn langsam pendeln, dann sogar kreisen. Wenn das Vieh jetzt springt, kriegt es den Apparat aufs Maul. Oder auch nicht. Mein Wolf springt aber nicht, sondern bewegt seinen Kopf fast unmerklich dem kreisenden Apparat nach, während er mich anstarrt. Dann taucht er in das Holz ein. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Übrigens auch keinen Wisent.

 

710

Eiffelturm, Triumphbogen, Notre Dame, Brücken der Seine – Die weltbekannten Monumente sind schon an uns vorübergerauscht, und das alles nur auf der Suche nach einem Parkplatz! Der Verkehr in dieser Stadt ist sagenhaft. Lörchen starrt entzückt aus dem Fenster, ihre Blicke mit Ausrufen der Überraschung und Freude begleitend. Ich starre auf die Straße, fünfspuriger Verkehr ohne jede Fahrbahnmarkierung. Wie soll ich bloß einen Schlafplatz finden, wenn ich nur damit beschäftigt bin, meine gedachte Schneise zu halten zwischen all den Autos vor, hinter und neben mir? Zu allem Überfluss geht es jetzt auch noch bergauf. Parkplätze am Berg können wir überhaupt nicht brauchen, wie sollen wir da kochen oder schlafen? Aber die Sorge ist umsonst, dichtgedrängt stehen die Wagen in jeder Gasse. Gerade muss ich wieder in eine Kurve – da sehe ich ihn, den Parklatz: im spitzen Teil der Kurve, daher eben, stehen wenige Wagen mit der Front zum Straßenrand. Hätte mich der einzige freie Platz nicht direkt durch die Windschutzscheibe angelacht, ich hätte ihn nicht gesehen. Einfach geradeaus hinein! Motor aus! – Nach angemessener Verschnaufpause packen wir Babywiege und Gitarre ins Führerhaus und sehen uns gründlicher um. Wir ist am Montmartre, haben den einzigen ebenen Platz weit und breit, ohne Rangiererei, vor uns Grünfläche, seitlich öffentliche Toiletten, hinter uns kleine Läden und Cafés, über uns Sacre Coeur und Place du Tertre, unter uns die Metro-Station. Ideal. Wir wohnen hier mehrere Tage.

Nach einem Besichtigungstag per Metro besteht Lörchen darauf, dass ich mich porträtieren lasse, oben auf dem Place du Tertre. Ich setze mich vor den Künstler, die letzte Abendsonne streichelt den Berg. Es dauert, die Sonne entschwindet. Die Laternen gehen an und verändern alles, die Farben, die Schatten, die Konturen. Aber Lörchens Sorge ist unbegründet, der Künstler setzt sein Werk unbeirrt fort, und sie ist mit dem Bild zufrieden. Danach sitzen wir unter all dem Jungvolk auf den Stufen zu Sacre Coeur, hören ihre Lieder, genießen den Blick auf die Lichter von Paris und träumen in die Nacht. Nach Hause haben wir es ja nicht weit.

 

730

Um 23 Uhr schläft Frankfurt schon sehr gründlich. Nicht nur der Bahnhof, auch der Weg hinunter in die Stadt ist öde. Bei meinem Gedanken an ein Hotel fällt mir ein, dass mein Geld in Polen viel mehr wert ist. Ich brauche nur über die Oderbrücke zu gehen und spare mindestens die Hälfte. Aber drüben empfängt mich noch mehr Öde. Der einzige, der noch Licht hat, ist der Grenzposten. Ich frage nach einem Hotel. Hotel? Ja, hm, natürlich. Er will mir erklären, aber sein Kollege unterbricht ihn mit verstecktem Grinsen. Die beiden wechseln ein paar polnische Sätze miteinander, dann entschließen sie sich, mir die gewünschte Auskunft zu geben. Die Adresse ist nicht weit, ich finde sie auch in der Finsternis.

Auch das Hotel ist dunkel, kein einziges beleuchtetes Fenster. Auf mein mehrfaches Klingeln öffnet ein junger Mann, ziemlich verschlafen, die Tür. Hotelzimmer? Ah, ja. Es ist wirklich billig, aber ich soll im voraus zahlen. Sehr ungewöhnlich für ein Hotel, denke ich. Ich bekomme einen Schlüssel, finde die Zimmernummer, alles kein Problem, bis ich die Deckenbeleuchtung einschalte. Ein rotes Licht fällt in das Zimmer. Die Farbe wäre an sich nicht nötig gewesen, denn es ist ohnehin fast alles in rot gehalten. Ein französisches rotes Bett mit roter Bettdecke und einem großen weißen Herzen drauf. Ein roter Plüschsessel, eine rote Nachttischlampe. Rotgemusterte Tapeten und Fenstervorhänge. Nur der elektrische Heizkörper ist nicht rot. Keine Frage, ich bin in einem Puff. Allein und müde. Innerlich alarmiert schließe ich die Tür sorgfältig zu und verriegle die Klinke zusätzlich mit der Lehne des Polsterstuhls und gehe schlafen. Ich schlafe übrigens sehr gut.

Morgens halb acht wache ich auf. Langsam fällt mir wieder ein, wo ich bin. In aller Ruhe mache ich mich fertig zur Abreise. Am Empfang ist niemand. Diesmal gelingt es mir auch nicht, jemanden zu wecken. Das ganze Haus ist tot, niemand aufzutreiben. Die Haustür ist verschlossen. Den Gedanken an Frühstück schiebe ich beiseite. Ich will weg. Ich öffne das Fenster neben der Haustür. Draußen ist frische Luft. Erst hänge ich also den Schlüssel wieder an seinen Platz, dann stelle ich die Gitarre vorsichtig draußen an die Hauswand, werfe den Rucksack und schließlich mich hinterher. Deshalb sollte ich wohl im Voraus bezahlen.

 

740

Nachts schließen die Portugiesen ihr Land ab. Brücken werden mit Gittertoren verrammelt, Fährlinien bis zum Morgen eingestellt. Solche Erfahrung ist mir nicht neu. Aber jetzt ist Mittag. Und die Grenze kommt noch gar nicht. Was soll also diese Schranke mitten über die Straße? Der Mann sieht nicht wie ein Polizist aus, eher wie ein Bahnbeamter. Er ist freundlich, spricht aber nur portugiesisch und kann mit unserer Straßenkarte nichts anfangen, da er zu den 60 Prozent Analphabeten im Lande gehört. Da kommt ein zweiter Mann in Arbeitskluft. Dieser hebelt die Schranke hoch, jener bedeutet uns, vorzufahren. Sie sieht aus wie eine provisorische Baustraße, aber in Portugal gehören Schlaglöcher zu jeder Straße. Erschrocken trete ich nach wenigen Metern auf die Bremse. Vor mir endet der Weg an einer Eisenbahnstrecke, und dahinter ist ein Abgrund. Zwei Männer sehen mich erwartungsvoll an. Tatsächlich, aus der Nähe gesehen fädelt sich der Weg in einer scharfen Linkskurve auf die Eisenbahnstrecke ein, nicht quer über die Gleise, sondern richtig auf den Schienenweg. Ein dritter Arbeiter winkt, ich solle fahren. Hinter mir wird gehupt. Ich fahre. Auf den Schwellen liegen Bohlen, auf denen sich jetzt die Räder von unserem Bus befinden müssen. Sehen kann ich es nicht. Nach kurzer Strecke fällt der Boden ab. Unten in der Schlucht schäumt ein Fluss. Ich sehe ihn durch die Bahnschwellen, denn ich wage nicht, nach links oder rechts zu sehen. Konzentriert versuche ich, die Räder auf den Bohlen zu halten. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ein Rad hier auf der Brücke zwischen die Schwellen gerät! Auf der anderen Seite sind wir wieder auf der Fernstraße, auf der der Gegenverkehr schon wartet. Was ich hier erlebe, ist für die Einheimischen normal. Ich halte in einem winzigen Ort, um mich zu entspannen. Durch das Starren auf die Bohlen bin ich bei hellem Sonnenschein wie durch einen Tunnel gefahren und weiß bis heute nicht, wie die Brücke, die Landschaft, die Strecke wohl aussehen mögen.

 

765

Keine Nachricht von Niko! Langsam zerrt seine Sprachlosigkeit an meinen Nerven. Wir hatten uns lose für ein Treffen verabredet, denn er will mit seiner Mutter nach Marseille fliegen und wir gondeln sowieso in der Gegend umher. So haben wir uns ganz in die Nähe von Marseille begeben, in das Örtchen Cassis, wo es uns, obwohl wir nur zu den Schönen, aber nicht zu den Reichen gehören, bei Sonnenschein und Meer wunderbar gefällt. Wenn nur die Ungewissheit mit Niko nicht wäre! Montag Mittag kommt eine SMS, kurz und knapp: „Dienstag Arles, Mittwoch Nîmes.“ Also nicht Marseille? Nachfragen sind nicht möglich, Nikos britisches Telefon ist tot. Salka entscheidet: Wir fahren sofort nach Arles.

In Arles finden wir einen wunderbaren Platz für unseren Bus, mitten in der Stadt, direkt am Amphitheater, kostenlos, Sonne, weite Aussicht. Eine Weile mussten wir um diesen Platz kämpfen, aber dann war es herrlich. Anders als sonstwo hat man sich in Arles entschieden, die alten Römerbauten wieder aufzubauen, und ich gehöre zu den Menschen, die gute Nachbauten mehr lieben als alte Trümmer. Am Amphitheater wurden schon viele zerschlissene Teile durch nachgebaute Steine ersetzt, und das antike Theater, von dem fast nichts mehr erhalten ist, wird total rekonstruiert. Auch ansonsten gefällt uns die Stadt mit ihrer gut erhaltenen Stadtmauer und den malerischen Gassen sehr, und wir langweilen uns nicht. Nach fast 24 Stunden in Arles ohne jedes Lebenszeichen von Niko beschließen wir, nicht mehr auf ihn zu warten, jetzt den zweiten Abend in Arles zu genießen und morgen in die Camarque weiterzureisen. Während wir gerade den Bus verlassen wollen, wird neben uns ein Parkplatz frei, und wie üblich wird er schon nach wenigen Sekunden neu belegt, mit einem französischen Auto und - Niko am Steuer!

Es verschlägt ihm einen Moment die Sprache, als ich an seine Scheibe klopfe , und die Verblüffung über seinen omnipräsenten Vater steht ihm im Gesicht. Hannelore aber begrüßt mich fröhlich, als träfen wir uns gerade wie üblich auf dem Bergedorfer Wochenmarkt. Erst nach ein paar Sekunden realisiert sie, wo wir in Wirklichkeit sind, und stößt einen lauten Schrei aus, denn sie allein wusste von der ganzen Verabredung rein gar nichts. Als wir dann später in einem Restaurant am alten Römerforum gemütlich zusammen essen und lachen, kontert Niko meine Vorhaltungen, wir wären fast wieder weggefahren, weil er nichts habe von sich hören lassen, mit dem unschlagbaren Hinweis: „Wieso? Es hat doch alles wunderbar geklappt!“

 

770

Schwierig, aber wird schon gehen. So ungefähr deute ich seinen Gesichtsausdruck. Er spricht ein bisschen Deutsch, hat wohl in Deutschland gearbeitet, aber nicht so viel, dass er mir seine Arbeit erklären könnte. Es musste aber sein. Schon seit Tagen bin ich jeden Morgen mit einem Hammer unter den Bus gekrochen, um den Magnetschalter zu lockern, und heute morgen ging gar nichts mehr. Wie gut, dass wir den Bus auf einem Berg abgestellt hatten, aber nun sind wir in dieser winzigen Autowerkstatt, die nur an dem Schild zu erkennen war und in die unser Bus noch nicht einmal hineinpasst. Auf der Straße hat er zuerst die Batterie ausgebaut, sorgfältig geputzt, und nun gießt er die Säure Zelle für Zelle durch einen Filter in eine rechteckige Holzwanne. Batteriesäure sei „in diesen Zeiten“ sehr schwer zu bekommen. Und einfach eine neue Batterie? 0, eine passende müsse er schon aus Athen kommen lassen. Ich denke mit Schrecken an die Wartezeit, wir wohnen ja in dem Bus, und an die Kosten. Er spült die Zellen mit Wasser. Dann legt er Spannung an. Kurzschluss, jedenfalls in einer Zelle. Er lädt uns in sein Auto und fährt die ganze Stadt ab, jeden seiner Konkurrenten. Irgendwo bekommen wir eine Batterie, nagelneu, aber eigentlich nicht groß genug für einen Kleinbus. Natürlich sind wir einverstanden. Es geht zurück, vorsichtig kommt die alte Säure in die neue Batterie, und die dann ans Ladegerät. Nun krabbelt er auf der Straße unter den Bus und baut Anlasser und Magnetschalter aus. Es kostet ihn einiges, den verrosteten Magnetschalter zu zerlegen. Dann schleift er ihn gängig, dass es flutscht. Den Anlasser baut er auch auseinander, packt den Läufer in seine Drehbank und dreht den Kommutator säuberlich ein paar tausendstel Millimeter ab. Auf seine Drehbank ist er stolz. Der Kommutator glänzt wie neu. Als wir nach der Mittagszeit wiederkommen, ist die Batterie aufgeladen. In aller Ruhe baut er alles wieder ein, Stück für Stück, zuletzt die Batterie. Der Bus startet sofort. Mir schießt ein Vergleich durch den Kopf: Die deutsche VW-Werkstatt hätte vermutlich Anlasser, Magnetschalter und Batterie erneuert, zuzüglich Ein- und Ausbau … So zahlen wir nur die Batterie und etliche Arbeitsstunden, die aber noch nicht einmal teuer. Ja, lag der Fehler nun beim Magnetschalter, beim Anlasser oder bei der Batterie, denke ich im Weiterfahren. Richtig geklärt wurde das nicht. Aber egal, es gab nie wieder Probleme, die ganze Rückreise nicht, die ganze nächste Sommerreise nicht, und wie lange die Teile später noch gehalten haben, weiß ich nicht. Es war ja nicht unser Bus.

 

775

Hab’ keine Sorgen, Gefährtin,

fremd ist, was Deine Sinne erreicht,

wenn die Nacht jetzt kommt, doch

das Fremde, das will Dir ein Freund sein,

ein Mosaik von der anderen Seite der Welt.

 

Was Du siehst,

durch die Fenster am nachtschwarzen Himmel

ist doch nur der Komet,

ein seltener Gast aus den Weiten des Raumes,

der täglich dir treu bleibt und doch niemals wieder erscheint.

 

Was Du hörst,

ist doch nur das Rauschen der Brandung

da draußen am Strand,

das rhythmische Plätschern,

das Dir nur des Meeres Lebendigkeit zeigt.

 

Was Du riechst,

ist doch nur der Duft der Zypressen,

und uralter Pinien, die ihre Zweige

über Dich beugen.

 

Was Du schmeckst,

ist doch nur der Rest Bardolino, die winzige Spur,

die auf Deiner Zunge noch blieb nach dem Abend.

Kein Stoff, der Dich trunken macht, Sinne Dir raubt,

den Gliedern nur ganz sanfte Schwere gibt und sie entspannt.

 

Was Du fühlst,

das bin doch nur ich, der Dich wärmt

unter den Kissen in höhliger Enge,

der ohne Forderung und ohne Frage

die Träume erwartet genauso wie Du.

 

Was Du träumst,

ist doch nur der Traum von der anderen Seite des Lebens,

der sonnigen Seite, die wahr wird, wenn man sie träumt,

auch dann noch besteht, wenn der Morgen erwacht

uns’re Wege zu trennen.

 

 795

Gefällt es Ihnen?“ Mir verschlägt es die Sprache, und ich nicke nur. Sie spricht deutsch, akzentfrei, aber in einem mir fremden Dialekt. Ich habe sie höflich französisch gegrüßt, als ich auf dem Heimweg an den Hobby-Malern vorbeiging, und dann doch kurz stehen blieb, um auf ihre Staffelei zu sehen. „Wenn ich malen könnte, würde ich auch hier malen“, sage ich. Die kleine, vollschlanke Frau mit ihren rot gefärbten Haaren mustert mich und meint: „Na ja, dafür können Sie offenbar musizieren“, zwinkert mit dem Auge und wendet sich wieder Roussillon zu, um den malerischen Ort weiter zu skizzieren. Richtig, ich habe die Gitarre auf dem Rücken. Ich freue mich, so unverhofft mit jemandem reden zu können. Wir wechseln ein Paar Sätze über den Ort und natürlich über die Steinbrüche. Ja, die will sie auch noch malen, morgen früh. Sie will jetzt nicht Eintritt für den halben Tag bezahlen. Ich locke sie mit einem Weg, den ich gestern ausgekundschaftet habe, durch den Pinienwald auf den Berg. Dort übersehe man den Steinbruch erstklassig und zahle keinen Eintritt. Sie ist interessiert und diskutiert es - französisch - mit einer anderen Dame, die gerade ihre Staffelei in einen Transporter packt und einen Korb herausholt.

Zu dritt gehen wir los. Die andere Dame ist größer, dünner und hat kurze graue Igelhaare. Sie spricht nur sehr wenig Deutsch, obwohl sie ebenfalls aus Colmar kommt. Die Elsässer Gruppe macht Urlaub mit Malerei in der Provence. Wir plaudern uns den ganzen Weg auf den Berg, genießen die Luft und bewundern die riesigen Pinienzapfen, die allenthalben verstreut liegen. Oben an der Kante, die steil in die Steinbrüche abfällt, werden wir belohnt für die Mühe: Der Ausblick auf die weichen, farbenprächtigen Ockerfelsen ist grandios. Durchgängig sind sie intensiv orange-rot, aber es gibt auch karminrote, fast violette, gelbe und sogar reinweiße Schichten. Durch den Abbau der Farbstoffe sehen die steilen Wände angenagt aus, bilden die seltsamsten Formen. Einige der roten Felsen ragen auch einzeln auf. Wir setzen uns alle drei an die Kante unter die Pinien und lassen die Beine in den Abgrund baumeln. Die Malerinnen holen Notizblöcke und Stifte heraus und beginnen zu zeichnen. Ich spiele Gitarre, seltsam angestaunt von den Leuten weit unten, die zwar Eintritt bezahlt haben, aber nicht für mich. Eine Flasche Wein, Brot, Käse und sogar Kuchen - der Korb war gut gepackt. Und so sind wir fröhlich und bester Dinge, als wir auf dem Heinweg noch die schönsten Zapfen einsammeln und uns für den Abend in Roussillon verabreden.

 

800

Mit einem kräftigen Satz springe ich über die Elbe. Bis Spindlermühle brachte mich der Bus. Der Rest wird gelaufen. Zunächst ist der Forstweg noch breit, auch die Elbe, die hier die Steine umtost, auf denen Kinder stehen und im Wasser spielen. Nachdem ihre Schwester, die von der Schneekoppe herunterkommt, dann nicht mehr dabei ist, wirkt die Elbe schon bescheidener. Aber noch immer tobt sie schäumend und quirlend von einer Stromschnelle zur anderen, und so soll es auch fast die ganze Strecke bleiben. Der Weg führt durch Hochwald, Beeren wachsen an seinem Rand und die Stille wäre perfekt, wenn das Rauschen meiner Elbe nicht wäre. Schmaler wird der Weg. Eine Knüppelbrücke führt ihn über den Fluss, der versucht, mit vielen kleinen Ärmchen all den großen Steinen aus dem Weg zu gehen, die mit Blumen und Moos bewachsen lauter Inseln zwischen den glitzernden Rinnsalen bilden. Die Schlucht wird so eng, dass neben der Elbe kein Platz mehr für den Wanderer bleibt. In Serpentinen führen Bergsteige die Wand hoch, heraus aus der Schlucht, hinauf auf die kahle Höhe. Immer weiter reicht der Blick über das Riesengebirge, doch fröhlich stimmt die schöne Aussicht nicht. Zu deutlich sind die kahlen Hänge Folgen des Waldsterbens. Das Ende der Schlucht ist erreicht, ein abruptes Ende, in das die Elbe den größten Wasserfall ihrer ganzen Laufbahn inszeniert. Hoch über der steil abfallenden Kante sehe ich dem Schauspiel zu, bevor ich die Elbbaude erreiche. Kalt ist der Wind. Eine Wolke hat sich über die Gipfel geschoben. Krüppelkiefern und Heide begleiten den Weg, der nur noch langsam ansteigt zur Kuppe der Elbspitze. Weit könnte ich sehen, wenn der Nebel nicht wäre. Ganz plötzlich und unspektakulär ist sie da, die Quelle der Elbe. Genau genommen gibt es gar keine Quelle. Drei handbreite Rinnsale eilen aus verschiedenen Richtungen durch das Gras, und dort, wo sie sich treffen, wurde ein Steinrund gebaut. Daneben sind mit buntem Mosaik die Wappen aller Städte eingelassen, durch die das Wasser, das sich hier auf den Weg macht, noch kommen wird. Das letzte Wappen ist Hamburg. Das gefällt mir gar nicht. Das letzte Wappen müsste Cuxhaven sein, denn schließlich liegt Hamburg nicht an der Mündung. Ich nehme mir vor, beim Fremdenverkehrsamt vorstellig zu werden. Das Ziel ist erreicht, aber es ist kalt und einsam hier im Nebel. Die Kamera trage ich vergeblich bei mir. Ich gehe noch eine Weile weiter. Zu meiner Freude taucht aus dem Nebel eine Familie auf. Sie begrüßt mich mit „dzindobre“. Aha, ich bin schon in Polen.

Am nächsten Morgen sehe ich zum Himmel. Er ist überall blau. Das Wetter ist viel besser geworden. Nun gut, dann gehe ich die zwanzig Kilometer eben noch einmal, wegen der Fotos. Für einen Hamburger ist die Elbquelle es allemal wert.

 

830

Kasperletheater ist meine Spezialität. Auch wenn die Auswahl an Puppen sehr begrenzt und die Bühne improvisiert ist, der kleinen Stephanie gefällt es wie jedem anderen Kind auch. Man merkt ihr nicht an, dass sie eine Unternehmerin ist, dass ihr nicht nur dieses Wochenendhaus in den Bergen und die Stadtwohnung in La Vella gehört, sondern auch das Diamantengeschäft, mit dem alles verdient wurde. Völlig pleite und auf der Flucht vor Gläubigern und Finanzamt kamen ihre Eltern irgendwann nach Andorra. Aber dann wurde Stephanie geboren. Wer in Andorra geboren wird, ist Staatsbürger. Nur Staatsbürger dürfen in Andorra Grundeigentum erwerben oder ein Geschäft betreiben. Beides tat Stephanie seit ihrer Geburt, natürlich gesetzlich vertreten durch ihre Eltern. Die Kleine versteht bestimmt noch nicht einmal so viel von Diamanten und dem so täuschend ähnlichen künstlichen Kubikzirkon, wie ich den paar Tagen meines Aufenthaltes lerne. O ja, in Andorra ist manches anders. Man zahlt überhaupt keine Steuern und nimmt dennoch staatliche Leistungen in

 

880

Alice war nicht allein im Wunderland, aber ich bin es. Einsam hallen meine Schritte durch das fensterlose Labyrinth. Hinter mir fällt eine schwere Tür zu. Hunderte von Kabeln wuseln zu meinen Füßen, schlängeln sich an der Wand hoch, durchkriechen die Mauern, begleitet oder gekreuzt von Rohren jeden Durchmessers. Immer wieder Treppen, armdicke Türen, Zimmer und Säle mit Sicherungen, Schaltkästen, Computerschränken, beeindruckenden Kabelbäumen. Bleibe ich stehen, erstirbt jedes Geräusch in den meterdicken Betonwänden. Erschrocken ziehe ich meinen Kopf aus dem Natriumtank zurück. Zu gruslig hallt mein eigener Atem. Die Kontrollstelle für Radioaktivität gibt dagegen keinen Piep von sich. Beruhigend. Ich greife mir zwei der hübschen Korbsessel und drapiere sie zwischen Ventilantrieben und Absperrschiebern, die in endloser Reihe aus dem Boden sprießen. Grotesk. Nach Lust und Laune kurble ich an den Ventilen für Wasser, Luft, Natrium, Stickstoff. Ein Irrenhaus ist das hier, und wenn die meterhohen Cartoon-Männchen nicht plötzlich von den Wänden springen, bleibe ich der einzige Insasse. In der Druckschleuse halte ich mich fest, als könnte sie plötzlich zu drehen anfangen wie eine Trommel im Tivoli. Jedenfalls würde mich das kaum noch mehr wundern als das Klohäuschen neben dem Generator. Mich fröstelt. Die Reaktorhalle ist kalt und totenstill. Es sieht aus wie am Morgen nach einer Party. Unordentlich stehen die Bistrotische zwischen den eisernen Geländern der beiden Abklingbecken. Überall stehen offene Flaschen und Plastikbecher. Die Bierzeltgarnituren unter dem Schwerlastkran und die vielen verstreuten Korbsessel verlieren sich im Dämmerlicht der großen Halle. Unter dem eingezogenen Rüssel der Lademaschine gibt es Freibier. Eine Pyramide von Flaschen ist vor dem Plutoniumlager aufgebaut, aber es gibt keinen Flaschenöffner. Ich schlage den Kronenkorken sanft und fast lautlos an der Kante des Reaktordeckels auf, der sorgfältig über mir abgestellt ist. Dann werfe ich den Korken mehr als zwanzig Meter tief in die Reaktorgrube, folge ihm mit meinen Blicken, während ich trinke. Alter, ist das nicht der Moment, auf den du immer gewartet hast? Mach vorwärts! Ich eile weitere Treppen und Gänge und finde die Schaltzentrale wie von selbst. Teppichboden verschluckt meine Schritte. An der Wand für den Reaktorschutz blinken Hunderte von Lämpchen und melden das Chaos. Mit wenigen Schritten bin ich am Platz des Reaktorfahrers. Die Flasche noch in der Hand drücke ich zielsicher auf den Roten Knopf. Alle Monitore springen an. Auf holländisch und deutsch tönt es: „Willkommen im Kernwasser-Wunderland Kalkar, dem einzigartigen Erlebnispark …“ Mir dreht sich der Kopf, während das Video geschäftig plappert und die Alarme dazu rhythmisch blinken. Raus! Raus hier!!

Warme Frühlingsluft umfängt mich. Helles Tageslicht durchflutet die Kantine. Mittagessen, Nachtisch, Kuchen satt, alles im Eintritt enthalten.. Mit völlig verkrampfter Haltung sitze ich am Tisch. Warum eigentlich? Das Irrenhaus ist doch lange nicht so verrückt wie das Normale vorher. Und das ist vorbei.

 

900

Die Stecke besteht fast nur aus Tunnel. Ich könnte weiterschlafen wie die Oma mir gegenüber, die schon seit Stuttgart in diesem Zug sitzt. Aber das Aufwachen lohnt sich, denn immer, wenn der Zug kurz aus dem Tunnel auftaucht, gibt es einen grandiosen Ausblick. Wie in einer Dia-Schau folgen die Bilder: Ein schmales Tal, ausgefüllt mit einem Städtchen, dessen bunte Häuser pittoresk an den Bergflanken hochklettern, umgeben von Wein und Oliven, mitten drin ein Platz, ein Hafen, das Meer. Und der Bahnhof. Aber an dem hält der Schnellzug nach Rom natürlich nicht. Husch, wird es wieder dunkel, und ein anderes Bild flammt auf, ähnlich zauberhaft, und noch eins, und noch eins. ........ Das Geräusch der Bremsen weckt die Oma. Der Zug steht fast ganz im Tunnel, nur die letzten Wagen erreichen noch einen Bahnsteig. „Hier möchte ich aussteigen“, sage ich und sinniere aus dem Fenster. „Machen Sie das doch“, sagt die Oma. „Das ist doch kein offizieller Halt!“ – „Na und? Der Zug steht doch.“ Sie hat recht. Ein kurzer Entschluss, und ich winke ihr von draußen, während der Zug wieder anrollt. Ein Bahnbeamter kommt schimpfend auf mich zu. Ich stelle mich dumm, als glaubte ich in La Spezia zu sein, und völlig sprachunkundig. Das Rotkäppchen gestikuliert in die Tunnel hinein, ist aber dann von meiner Fahrkarte beeindruckt, gibt noch gute Ratschläge und lässt mich gehen. Erwartungsvoll betrete ich mein letztes Dia . ........ Viel Platz bleibt nicht für die Örtchen zwischen der steil aufragenden Küste und dem Meer, und jedes Fleckchen in dem kleinen Taleinschnitt ist mit Häusern bepackt. Abgesehen von den Zügen gibt es keinen Verkehr. Doch, da ist eine einzige, schmale Straße, die irgendwo sehr kompliziert aus dem Berg herunterkommt und durch den Ort führt. An ihrem Rand abgestellte Fahrzeuge sind schließlich immer häufiger Boote statt Autos, bevor sie einfach am Hafen endet. Häuser, die nicht an der Straße liegen, sind nur über verschachtelte Gänge, Treppen oder Brücken zu erreichen, und manch obere Etage ist ebenerdig erreichbar. Unerwartet schnell habe ich die Stadt verlassen auf einem Fußweg, der um den Berg führt, sehe hinunter auf die Dächer, auf die Mole und das Meer, und der Weg geht weiter, immer am steilen Hang entlang. “Via dell’Amore“ heißt er, aber nur an wenigen Stellen ist es möglich, Hand in Hand zu gehen; manchmal lässt er kaum zwei Füßen nebeneinander Platz. Und doch ist er – abgesehen von Bahn und Schiff – die einzige direkte Verbindung zwischen den putzigen Orten, die man hintereinander in den Einschnitten der Steilküste sehen kann, wenn der Weg gerade um eine vorspringende Felsnase führt. Fünf Orte sind es, wie der Name “Cinqueterre“ schon sagt, jeder auf seine Weise beschaulich und unzugänglich. ........Inzwischen fängt die Oktobersonne langsam an, sich im Meer zu spiegeln. Gerade als ich darüber nachdenke, dass ich im nächsten Ort den Bahnhof aufsuchen muss, mischen sich leise Gitarrenakkorde in das sanfte Rauschen von Wind und Meer. Ich bleibe lauschend stehen. Gerade hier ist der Hang nicht ganz so steil, unter einigen Oliven unter mir gibt es Flecken, die man fast eben nennen könnte, und dort sitzen sie beim Picknick auf mitgebrachten Decken. Sie rufen mir zu und deuten, als ich näher komme, auf die Gitarre auf meinem Rücken. Ich setze mich und stimme mein Instrument nach den ihren. Sie sind eine christliche Gruppe, evangelisch, nicht katholisch, wie sie mit besonderer Betonung erklären. Ungewohnt in Italien. In Lévanto haben sie eine eigene Kirche, höre ich. Sie haben selbstgemachte Liederbücher dabei. Ich lerne ihre Lieder und lasse mich nebenbei zum Abendbrot einladen. Wir können uns zwar kaum unterhalten, aber fröhlich zusammen singen, während sich der Tag mit einem prächtigen Sonnenuntergang verabschiedet. Meine neuen Freunde kennen den „Weg der Liebe“ auswendig, so dass ich mit ihnen auch im Dunkeln ohne Absturz den nächsten Bahnhof erreiche.

 

915

Es ist zu heiß. An einer Wegkreuzung finden wir eine Mauer im Schatten. Ich setze mich mit dem Rücken an die kühle Wand. Salka legt sich auf die Mauer mit dem Kopf auf meinem Oberschenkel. Wir reden wenig, rühren uns kaum noch. Ruhe umgibt uns, denn die Gassen in der malerischen Altstadt Alfama sind für Autos nicht befahrbar. Die engstehenden Häuser teilen sich den knappen Platz im steilen Gelände und lassen nur wenig Raum für schmale Wege und Treppen zwischen sich. Wenn wir uns umdrehten, könnten wir hinunter sehen auf den Tejo und einen Teil der roten Hängebrücke, die ihn überspannt. Aber wir drehen uns nirgendwo hin. Im Schatten des Hauseingangs uns gegenüber sitzen ebenso unbeweglich zwei Frauen mit einem kleinen Kind. Neben dem Haus, auf der Schattenseite des Treppenweges, schläft ein Mann. Größere Kinder lagern sich auf anderen Stufen, sind wach, bewegen sich aber sehr sparsam. In der Hitze des Nachmittags liegen Einheimische und Fremde hier wie eine große Familie ohne ein anderes Bedürfnis als nach Kühle und Ruhe. Ganz langsam wird der Schatten über der Treppe breiter. Nach einer Stunde füllt er den ganzen Weg bis zum nächsten Haus. Die Kinder fangen zuerst an, leise zu spielen, der Mann wacht auf und döst noch ein wenig vor sich hin, die Frauen im Eingang halten ein Schwätzchen. Wir dagegen rücken ständig enger zusammen, denn unsere Schattenstelle wird schmaler. Dann steht der Mann auf, grüßt und geht. Die Frauen verschwinden im Haus. Die Kinder toben auf dem Weg vor uns und werfen uns hin und wieder einen neugierigen Blick zu. Die größte Hitze ist vorbei. Wir recken unsere eingeschlafenen Knochen und machen uns auf den Weg nach Hause: Zu Fuß bis zum Bahnhof in der Lissaboner City, dann bis Belém mit der S-Bahn, mit der Fähre über den Tejo und noch ein paar Stationen mit dem Linienbus bis zum Strand, wo unser Bus im Dauerschatten steht. Längst ist das Leben in uns zurückgekehrt, und mit den fallenden Temperaturen meldet sich auch der Hunger. Aus purem Übermut bestellen wir im Strandrestaurant den allgegenwärtigen Stockfisch Bacalhau. Er schmeckt uns ausgezeichnet, während die Sonne hinterm Atlantik versinkt und angenehme Kühle zurück lässt.

 

940

Are you Catholics or Protestants?“ Das ist die allererste Frage. Ca. 20 Jungen und Mädchen stehen neugierig vor unserem Bus. Ich versuche vorsichtig zu erklären, dass wir aus Deutschland kämen und die Frage der Religion bei uns nicht eine so große Rolle spiele. Der Wortführer hört sich das an, dann sagt er nur: „We are Catholics. Hundred Percent.“ Damit war das Thema zum Glück durch. Im Grunde sind sie wie andere Kinder auch. Sie singen mit, wenn der Gaak seine Oasis-Songs spielt, sie tanzen wie die Spicegirls, sind fröhlicher Ferienstimmung, nur ihr Benehmen ist schwer zu ertragen. Kinder aus Hochhaus-Ghettos, assoziiere ich sofort. In was für Häusern sie wohnen, weiß ich natürlich nicht, aber sie kommen aus Belfast. Dort fanden wir die Kantsteine in den besseren Bezirken besitzergreifend blau-weiß-rot bemalt - und prompt grün-orange-weiß in den Wohnbezirken der Katholiken. Aber letzteres darf offensichtlich nur heimlich gemalt werden, während in den herausgeputzten protestantischen Orten kunstvolle Triumphbögen über der Hauptstraße blau-weiß-rot verkünden: “God save the Queen!“ Der Streit ist überall gegenwärtig. Hier an der Nordküste gibt es nur einen kleinen Badeort, Sandstrand, Imbissbuden und eben den Campingplatz, den wir am Abend aufgesucht haben. Ich habe gleich gemerkt, dass er nur für Dauercamper, Wohnwagen mit Toilettenanschluss, vorgesehen ist, aber für „on pint“ will der Besitzer uns übernachten lassen. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass er „one pound“ meint, denn damit ist die Nacht für uns spektakulär billig. Die Kinder sind im Grunde ganz nett, hilfsbereit, zeigen uns alles, aber völlig unbritisch distanzlos. Sie setzen sich ungefragt in den Bus, lassen sich kaum wieder vertreiben, nehmen alles in die Hand, was erreichbar ist, klopfen nachts an die Scheiben, werfen unsere Wäsche von der Leine. Katholiken? Vielleicht auch das, aber vor allem Ghettokids ohne Perspektive, irgendwo ganz unten angesiedelt. Wir verlassen den Platz am nächsten Morgen. Ein Bleiben kommt für uns trotz des unerhört niedrigen Preises nicht in Frage, da sind wir uns einig.

Als wir in Derry die Republik erreichen, rechne ich fest mit einer gut befestigten Grenze, aber nichts da: Der Übergang ist völlig unscheinbar, wäre ohne die offensive Reklame der Tankstellen, die auf republikanischer Seite billig Sprit für englische Pfund verkaufen, gar nicht zu bemerken. Es gibt kein Grenzerhäuschen, keinen Zaun, keine hochgezogene Schranke, ja noch nicht einmal ein Schild, das den Hoheitswechsel anzeigte.

 

960

Bin ich jetzt eine “labyrinthkluge Ratte“? Dann müsste ich hier doch schnell durchkommen. Im Magen ist ein scheußliches Gefühl. Im Kopf spuken mir psychologische Tierversuche herum, Ratten im Labyrinth. Was ist Lernen? Was ist Intelligenz? Jedenfalls brauche ich weniger, als ich dachte, denn die Menge schiebt. Die große Halle unter den Gleisen ist vollgestellt mit Buden, Lampen, Spiegeln und Drahtzäunen. Nur enge, verwinkelte Wege sind möglich. Alles, was eine Schirmmütze trägt, guckt bedrohlich. Gesprochen wird wenig. Kurze Sätze. Von Posten zu Posten, von Ecke zu Ecke komme ich vorwärts. Schließlich bekomme ich meinen Pass wieder, auch mein Gepäck, komme raus und bin drinnen. Noch zwei Stationen mit der S-Bahn. Das Abholen am Alex klappt, ich bin froh. Wir fahren eine Station wieder zurück, gehen zu Fuß, gar nicht weit, alte Vorkriegshäuser, „illegale Wohnung“ nennen sie das, wo wir uns alle treffen. Der junge Mann, der hier wohnt, hat keine „Zuzugsgenehmigung“, arbeitet aber offiziell in Berlin. Überwachung mit Lücken, denke ich erstaunt.

Aber Kinder, wir haben doch gar kein Werkzeug! O, welche Enttäuschung. Nein, ich muss Werkzeug kaufen, am besten drüben, denn hier, wo unser Bus steht, gibt es nur Bäume. Wir steuern auf die schmale Lücke in der Mauer zu. Der freundliche Grenzer hat einen Bauchladen zum Stempeln von Pass und Kinderausweis. Ziemlich schnell finden wir einen Eisenwarenladen. Der Meißel kostet nur 2 Mark. Wir bezahlen in West, denn wir haben ja nichts anderes, und kehren um zur Lücke. Wieder gibt es Stempel, was die Kinder begeistert. Mit dem neuen Meißel und einem Stein als Hammer schlagen sie abwechseln auf die Mauer ein, um möglichst schöne Stücke herauszuhauen, so wie Tausend andere es auch machen. Das vielstimmige Geklopfe übertönt alles, aber viel gibt es hier auch nicht zu übertönen.

Ob es klug war, von Osten zu kommen? Jetzt stecken wir im Stau. Und das geht nun schon seit dem Alexanderplatz so. Langsam rückt das große Tor näher. Menschenmassen bevölkern den Pariser Platz. Einen Moment muss ich doch den Atem anhalten, als unser Bus genau unter dem Brandenburger Tor hindurchfährt. Am Tiergarten finde ich den alten Parkplatz wieder. Wir nehmen den etwas weiteren Weg bis zum Reichstag in Kauf, denn dort ist alles vollgeparkt. Es gibt Buden, Straßenmusik, Jongleure, allgemeine Volksfeststimmung. Kostenlos werden kleine Schnipsel des groben Stoffs verteilt, mit dem der ganze Reichstag eingehüllt ist, mit dicken blauen Seilen verschnürt. Von fern dagegen glänzt das Tuch weiß im Sonnenlicht, und die Seile wirken wie feine Paketschnüre. Vorsprünge, Mansarden, Kamine, alles ist sorgfältig eingepackt und extra verschnürt. Der Reichstag sieht weit schöner aus als sonst. Es ist wirklich ein gelungenes Kunstwerk. Auch die Kinder finden das.

 

970

Die Brieftasche ist weg! Unser Geld! Entsetzt starrt Lörchen in ihre Handtasche. Die grüne Brieftasche mit den Postsparbüchern, Geld, Führerschein - alles weg. Und wir hatten uns noch verwundert amüsiert, als uns gestern nicht nur einmal fremde Neapolitaner warnten, die Handtasche, den Fotoapparat nicht so sorglos zu tragen, wenn wir durch die Altstadt ziehen. Der Wirt, bei dem wir gerade bezahlen und abreisen wollten, macht einen nervösen Eindruck. Vielleicht glaubt er, wir würden sein Hotel verdächtigen, oder - noch schlimmer - wir könnten nun vielleicht nicht zahlen. Der soll bloß ruhig sein. Sein Hotel wäre kaum eine Bezahlung wert. Das Bett krachte bei der ersten Berührung mit uns zusammen. Am Sonntagmorgen versuchte er uns mit Zwieback (!) zum Frühstück abzuspeisen. (Aber da kennt er Lörchen schlecht, auf ihre Entrüstung hin besorgte er doch noch Brötchen.) Und dazu habe ich bei ihm die einzige Wanze meines Lebens kennen gelernt, zum Glück als Leiche. Nein, er soll bloß ruhig sein. Außerdem verdächtigen wir ihn nicht. Wir sind sicher, auf dem Schiff von Capri her oder in der Straßenbahn muss es passiert sein. Wahrscheinlich in der Straßenbahn, denn da war unglaubliches Gedränge, und Lörchen wunderte sich, dass ihre Handtasche aufgegangen ist. Herr Wirt, bezahlen können wir trotzdem. Was wirklich wichtig ist, trage ich wie immer auf der Haut: Geld, Karten und Pässe. Auf die Brieftasche können wir zur Not verzichten. 70 DM und 50.000 Lire sind zwar ärgerlich, aber die Sparbücher nützen dem Dieb nichts, und was brauche ich einen Führerschein, wenn wir doch gar kein Auto haben. Unser Daumen genügt uns. Ich habe keine Lust, mir die schöne Fahrt nach Capri nachträglich vermiesen zu lassen. Es war traumhaft, beim Schwimmen vor der Insel konnten wir durch das klare Wasser bis zum Meeresgrund sehen und die Fische beobachten. Ich bezahle also ganz ruhig den Wirt, und der zeigt uns den Weg zum „Ufficio Denunzie“ in der „Questura di Napoli“. Dort ist man freundlich, aber es dauert. Ein „interprete“ wird geholt, der uns auf deutsch fragt und die Anzeige italienisch in die Maschine diktiert. Dabei plaudert er mit uns über Neapels Kriminalität. Zum Beispiel erzählt er von Dieben, die mit Motorrädern dicht an offenen Cabrios vorbeifahren und den Beifahrerinnen die Handtaschen vom Schoß stehlen. Das lohnt sich bestimmt mehr als bei uns. Schade ist an der ganzen Sache eigentlich nur, dass Lörchen nun auf dem kürzesten Weg zurück nach Deutschland will. Und das heißt zu meinem Kummer: an Venedig vorbei.

Sechs Monate später erhalten wir in Hamburg Post vom Deutschen Generalkonsulat in Neapel. Sie schicken unsere Sachen. Brieftasche, Postsparbücher, Führerschein, Herbergsausweise, Adressen, Hinweise, Postkarten - alles ist wieder da, nur das Geld fehlt. Natürlich habe ich inzwischen all die Papiere neu besorgt, aber dass ich meinen alten Lappen wiederhabe, freut mich doch.

 

990

Niemals kann ich ohne Tränen daran denken. Erinnerst du sie noch, Niko, die Reise mit Tante Klaudia? Vielleicht nicht, vielleicht nur wenig. Du warst noch nicht einmal vier Jahre alt. Wir hatten den Bus aus einem Oldenburger Kuchenladen geliehen und lebten recht fröhlich auf Pappkartons. Bei einer Übernachtung an der Neretva hat uns irgendein Sammler sämtliche Aufkleber gestohlen. Ich ging mit dir an der Hand über die weltberühmte Brücke von Mostar, dem einzigartigen hohen Bogen, und wir standen unter der Brücke am Fluss. Ich staunte und du spieltest mit Steinen im Wasser. Wir übernachteten unbesorgt in einer Vorstadt von Sarajewo, zogen ein Dutzend Kinder an, die neugierig unser Treiben beobachteten. Ein Tischler in Sarajewo sägte uns ein paar Bretter zurecht, weil unsere Pappkartons langsam zusammenbrachen. Aber das zweitemal wirst du erinnern, als wir auf unserer Abschiedsreise mit unserem Bus aus Ungarn kamen, wir beide allein, da warst du schon fünfzehn Jahre alt, und ich fuhr mit dir wieder hin. Ich fand kaum eine Veränderung, die Moschee, die katholische, die orthodoxe Zentralkirche, alles auf engstem Raum beieinander, ein Sinnbild der Toleranz. Wir fanden dieselben Läden in der schönen alten Stadt oder auf dem malerischen Basar mit seinen Holzbuden, sogar den Tischler, wie vor 12 Jahren. Aber nun bestaunten wir es gemeinsam. Und wir fuhren mit der Seilbahn auf den Berg, um die Stadt von oben zu sehen. Wir fanden sogar denselben Platz an der Neretva wieder und gingen auch wieder gemeinsam über die Brücke von Mostar. Wir waren glücklich dort. Ich kann nie mehr ohne Tränen daran denken.